vom Alltag einer paralympischen Spitzensportlerin an der JLU.

London, 07. September 2012, kurz nach 21 Uhr. Am südöstlichen Rand der Metropole drängen knapp 13.000 Menschen in die hochmoderne North-Greenwich-Arena. Zum Abschluss des drittletzten Tages der Paralympics wird hier in wenigen Minuten das alles entscheidende Finale der Rollstuhlbasketballerinnen angepfiffen. Nach Siegen gegen Gastgeber Großbritannien und die Niederlande geht es für die deutsche Mannschaft dabei gegen die starken Australierinnen. Ein Sieg würde nach der Silbermedaille 2008 die erste paralympische Goldmedaille seit 28 Jahren bedeuten – der Druck ist dementsprechend groß.

Zu groß, wie es am Anfang scheint. Nach wenigen Minuten liegt Deutschland 10:4 im Hintertreffen, die dominanten Australierinnen scheinen eine Nummer zu groß. Doch das Team gibt sich nicht auf, gleich erst aus und übernimmt in einer packenden Partie schließlich die verdiente Führung, die es bis zum Ende nicht mehr hergibt. Deutschland holt die Goldmedaille.

Unter den strahlenden Siegerinnen ist an diesem Abend auch Annabel Breuer, die mit 19 Jahren die jüngste Spielerin im zwölfköpfigen Team ist. Kaum zurück in der Heimat, wird die junge Tübingerin mit Preisen geradezu überhäuft. Auf Einladung des Bürgermeisters trägt sie sich ins goldene Buch der Stadt Ulm ein, wo sie unweit ihrer Heimat bei den örtlichen „Sabres“ auf Korbjagd geht. Zusammen mit ihren Teamkolleginnen und weiteren MedaillengewinnerInnen wird ihr mit dem „Silbernen Lorbeerblatt“ wenig später im Schloss Bellevue die höchste sportliche Auszeichnung der Bundesrepublik verliehen. Wenige Monate nach ihrer Goldmedaille steht Annabel dadurch in einer Reihe mit Fußball-Kaiser Franz Beckenbauer oder Tennislegende Steffi Graf – und das mit gerade einmal 20 Jahren.

Von London ins Dachcafé

Knapp acht Jahre später hat sich die Aufregung längst gelegt. Obwohl Annabel seit 2012 in Gießen studiert, bemerkt man ihren schwäbischen Dialekt sofort. Dass sie nach ihrem Bachelor in „Bewegung und Gesundheit“ mittlerweile ihren Master in Psychologie absolviert, hat mit ihrer sportlichen Karriere laut eigener Aussage nichts zu tun, Psychologie interessiere sie einfach generell extrem. An ihrer Wahlheimat schätzt sie vor allem die beschauliche Größe. Ihr Lieblingsort ist die „SkyBar“ im altehrwürdigen Dachcafé, gleich über ihrer eigenen Wohnung. „Da kann man gut lernen, da ist es ruhig – einfach schön.“

Nach Hessen hat es die mittlerweile 27-jährige ursprünglich nur wegen ihrer Karriere verschlagen. Genauer gesagt: wegen des RSV Lahn-Dill, der als fleißiger Titelsammler quasi das Rollstuhlbasketball-Äquivalent zum FC Bayern München darstellt und die frisch gebackene Abiturientin nach ihrem Schulabschluss anfragte. „Eigentlich bin ich nur in Gießen, weil ich hier Basketball spiele“, erklärt Annabel. „Ich habe erst danach geschaut, was man hier so studieren kann.“

Ihre beeindruckende Titelsammlung ist trotz Studium auch nach der paralympischen Goldmedaille stetig weitergewachsen. Mit der Mannschaft des RSV Lahn-Dill, in der sie als einzige Frau ausschließlich mit Männern zusammenspielt, holt sie seit ihrer Ankunft vier deutsche Meisterschaften, fünf Pokalsiege und die Champions League im Jahr 2015. Mit der Nationalmannschaft gewinnt Annabel nach ihrer ersten Europameisterschaft 2011 auch die im Jahr 2015. 2013 und 2017 wird sie Vize-Europameisterin, 2014 zum zweiten Mal Vizeweltmeisterin. Bei der Neuauflage der Paralympics in Rio de Janeiro reicht es vier Jahre nach ihrem größten Triumph immerhin für die Silbermedaille.

2020 wird Annabel von der Deutschen Sporthilfe und der Deutschen Bank als „Sport-Stipendiat des Jahres“ ausgezeichnet. Im Finale des renommierten Wettbewerbs, der neben den sportlichen Erfolgen auch die erbrachten Studienleistungen würdigen soll, setzt sich die Wahlgießenerin gegen vier nicht-beeinträchtigte KonkurrentInnen durch – und ist damit die erste paralympische Gewinnerin überhaupt.

Annabel nach ihrer Auszeichnung zum „Sport-Stipendiat des Jahres“ im August. (Foto: Deutsche Bank / Florian Gerlach)

„Man muss dann halt einfach funktionieren.“

Wie anspruchsvoll es ist, ein Master-Studium und Spitzensport unter einen Hut zu bekommen, zeigt schon ein kurzer Blick auf Annabels Alltag. Morgens in die Uni, mittags ins Fitnessstudio, nachmittags zurück in die Uni, abends nach einem kurzen Zwischenstopp zuhause ins Training. Was andere schon einmal die Woche an ihre Grenzen bringen würde, ist für Annabel Alltag. Jeder Tag ist vollgestopft, alles komplett durchgetaktet.

Die dafür erforderlichen Charaktereigenschaften bringt die 27-jährige fraglos mit. Annabel ist organisiert und zielstrebig, den permanenten Druck ist sie mittlerweile gewohnt. Für Klausuren lernt sie schon drei Monate im Voraus, ihren Psychologie-Bachelor schreibt sie unmittelbar vor der Europameisterschaft 2019. „Vielleicht hilft es auch, dass ich weiß, dass ich eben nur eine gewisse Zeit habe, um zu lernen“, meint Annabel. „Man muss dann halt einfach funktionieren.“ An manchen Tagen einfach keine Lust zu haben, geht dann eben nicht.

Wenn gerade keine Klausurenphase ist und sie sonntags nicht lernen muss, ist samstagabends auch manchmal Zeit für das andere Studentenleben. Nach dem Spiel geht sie dann feiern, zusammen mit ihren Teamkollegen. Neid gegenüber anderen Studierenden empfindet Annabel aber sowieso nicht. Dafür erlebe sie eben Dinge, die die anderen nicht erleben. „Eigentlich“, findet sie, „ist es mir das schon wert.“

Wie für so viele, ist Corona auch für Annabel ein Einschnitt. Von einem Tag auf den nächsten findet monatelang kein Teamtraining mehr statt, auf dem Höhepunkt ihrer körperlichen Leistung ist die Spitzensportlerin auf einmal zum Nichtstun verdammt. Dass die Paralympics in Tokyo um ein Jahr nach hinten verschoben werden, sorgt außerdem auch in Annabels Studienplanung für Chaos, da sie sich vor ihre dritten Paralympics extra weniger Veranstaltungen gelegt hatte.

Gleichzeitig sorgt das Virus jedoch auch für Entlastung. Zum ersten Mal seit langem ist sie für einen längeren Zeitraum nur einer Belastung ausgesetzt und kann sich voll auf ihr Studium konzentrieren.  „Corona“, sagt Annabel, habe sie „ein bisschen runterfahren lassen“.  Zwangs-Entschleunigung eben, auch für sie. 

„Das ist an sich schon eine Abwertung“

Mit der JLU, die sich seit 2015 stolz als „Partnerhochschule des Spitzensports“ betitelt, hat Annabel vor mehreren Jahren einen Kooperationsvertrag abgeschlossen, der ihr als Leistungssportlerin grundsätzliche Unterstützung zusichert. Konkrete Abmachungen ergeben sich daraus jedoch nicht. Fehlzeiten, die etwa durch ein Trainingslager oder eine längere Auswärtsfahrt anfallen, muss sie selbst klären. Dass die meisten Lehrenden als Ersatz eine Ausgleichsleistung verlangen, bedeutet für sie einen ständigen Mehraufwand.

In Veranstaltungen, in denen Annabel nicht durch ihr Fehlen auffällt, wissen KommilitonInnen und Lehrende über ihre sportliche Karriere meist gar nicht Bescheid. Von sich aus erzählt sie nichts, das wäre ihr unangenehm. Wirklich beeindruckt sind auch die, die davon wissen, nur selten. Dass sie anders wahrgenommen wird als SpitzensportlerInnen ohne Behinderung, überrascht Annabel dabei jedoch nicht im Geringsten. „So ist das ja eigentlich auch in der Gesellschaft – dass Behindertensport als nicht gleichgestellt wahrgenommen wird.“ Oft, viel zu oft, werde ihr auch heute noch voller Wohlwollen erzählt, wie toll es sei, dass sie „trotz ihrer Behinderung“ Sport mache. „Das“, so Annabel, „ist an sich schon eine Abwertung.“

Annabel (links) im Einsatz für die deutsche Nationalmannschaft. (Foto: privat)

Dass die Wahrnehmungsunterschiede schon bei banalen Dingen wie der Fernsehpräsenz beginnen, weiß die Psychologiestudentin aus persönlicher Erfahrung. Schon ein schneller Blick auf die Wettkämpfe im Jahr 2016 genügt, um ihre These zu bestätigen: Während die Paralympics in Deutschland insgesamt knapp über 20 Millionen ZuschauerInnen erreichten, waren es bei den olympischen Spielen mit über 50 Millionen mehr als doppelt so viele. Von den Paralympics übertrugen ARD und ZDF insgesamt knapp 65 Stunden, von Olympia 313. Als Annabel und ihren Teamkolleginnen in London paralympisches Gold gewinnen, überträgt das ZDF nicht eine Minute.

Wer mit Annabel spricht, merkt, dass sie nicht zum ersten Mal Interviews gibt. Vor ihrer Wahl zum „Sportstipendiat des Jahres“ spricht sie mit der Gießener Allgemeinen und der Hessenschau, ihr Interview mit der Deutschen Sporthilfe wird auf zahlreichen Websites veröffentlicht, ein aufwendiges YouTube-Video begleitet ihren Finaleinzug und soll ZuschauerInnen zur Wahl animieren. Wirklich gerne im Scheinwerferlicht steht sie aber trotzdem nicht. Danach gefragt, wie man die Wahrnehmung von Behindertensport an der Universität verändern könne, kommt Annabel ins Stocken. Eine breitere Berichterstattung sei eine Idee, mehr Werbung über die Uni eventuell auch hilfreich. Selbst stärker im Fokus stehen will sie jedoch nicht. „Das wäre mir ehrlich gesagt unangenehm.“

Karriereende?

Nach ihrem Master will Annabel eine dreijährige Ausbildung zur psychologischen Psychotherapeutin absolvieren, auch ihr künftiges Berufsfeld hat sie sich schon überlegt. „Viele fragen mich, ob ich danach Sportpsychologie machen will. Da sehe ich mich ehrlich gesagt nicht so, mich interessiert eigentlich eher der klinische Bereich.“

Solange sie studiert, will sie auch ihre Basketballkarriere fortsetzen. Die um ein Jahr verschobenen Paralympics in Tokyo hat sie im Visier, es wären nach 2012 und 2016 ihre dritten. Was danach passiert, weiß sie noch nicht. Neben einer Vollzeitwoche weiter Spitzensport zu betreiben, das sei sehr schwierig. Langsam müsse man dann auch mal über das Karriereende nachdenken, schließlich sei sie dann auch schon 30 oder 35. 

All das erzählt sie zum Abschluss unseres Gespräches mit beneidenswerter Gelassenheit. Mit ihrer Situation wirkt Annabel insgesamt überaus zufrieden – trotz hoher Belastung, ausbaufähiger Unterstützung seitens der Uni und ungerechter gesellschaftlicher Wahrnehmung. Dass SpitzensportlerInnen mit Behinderung es in Zukunft etwas einfacher haben, wünscht sie sich jedoch trotzdem. „Ja“, so Annabel abschließend, „das wäre schön.“

David Hopper
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