Ein typisches Auslandssemester beginnt mit einer frühzeitigen Bewerbung, dem Warten auf die Zusage, der Vorbereitung und dann kommt schließlich die Wohnungssuche, die Beantragung des Visums, das Flügebuchen und und und – und dann endlich das Ankommen in einem anderen Land, das für die nächsten Monate das neue Zuhause ist. Doch die letzten zwei Jahre haben ein normales Auslandssemester fast unmöglich gemacht, denn wegen Corona war Reisen und Studieren in Präsenz selten möglich. Dass man trotzdem Auslandserfahrung sammeln kann, das hat mir Shawn, der an der Dong Hwa University in Taiwan studiert, im vergangenen Semester erzählt. Er hat bereits zwei Auslandssemester an der JLU gemacht und absolviert gerade sein drittes – aber in der virtuellen Variante. Denn hier an der JLU startete bereits im Wintersemester 20/21 das Virtual International Programme – kurz: VIP. 

Ein virtuelles Auslandssemester

Das VIP ist ein virtuelles Austauschprogramm, mit dem Studierende von mehr als 330 Partneruniversitäten nun seit drei Semestern die Möglichkeit haben, an Online-Lehrveranstaltungen der JLU teilzunehmen. Bei den Gießener Studierenden selbst scheint das Programm allerdings eher unbekannt zu sein. Veranstaltungen, die für die VIP-Teilnehmer geöffnet sind, gibt es viele: Waren es im Wintersemester 2020/21 noch über 50 Veranstaltungen, so waren es im Sommersemester 2021 schon über 80. Viele davon in Englisch, andere aber auch auf Deutsch oder in anderen Fremdsprachen. Und das VIP ist beliebt: im ersten Semester waren es rund 470 Incomings (also Studierende aus dem Ausland, die für ein oder mehr Semester nach Gießen kommen) aus 32 Ländern, im zweiten rund 420 und im jetzigen Wintersemester 365. Zwar sinken die Zahlen der virtuellen Incomings, das hat aber mit der steigenden Zahl der physischen Incomings zu tun – im ersten VIP-Semester kamen rund 40 Studierende auch physisch nach Gießen, im zweiten rund 60 und im dritten knapp über 100. Sehr viele Studierende nehmen diese Möglichkeit also wahr, um so während der Pandemie Auslandserfahrung sammeln zu können. In den vorherigen Jahren kamen nur ungefähr 200 bis 330 Studierende nach Gießen.

Morgens in Taiwan, abends in Deutschland

Shawn (der 許翔綸 heißt, aber der der Einfachheit halber Shawn genannt wird) ist 20 Jahre alt und studiert eigentlich Management Science and Finance im Bachelor in Hualien in Taiwan. Für Shawn bedeutet das VIP die Chance, das Studieren in einem anderen Umfeld kennenzulernen, neue Leute zu treffen und ohne größere Probleme wie Visum, Unterkunft oder Finanzierung Auslandserfahrungen zu sammeln. Die Kurse in Gießen findet er gut, allerdings stört ihn an der JLU das lange Warten auf die Noten und das Bangen, ob man bestanden hat oder nicht. Ein anderes Problem ist, dass nur verhältnismäßig wenige Kurse auf Englisch angeboten würden, denn die meisten seien auf Deutsch. Im Sommersemester seien seiner Meinung nach noch weniger Kurse auf Englisch angeboten worden, als noch im Winter – zumindest im Bereich Wirtschaft. Trotzdem lerne er hier mehr, die Inhalte würden anders vermittelt und das Pensum sei größer; in Taiwan werde eher frontal unterrichtet und außerdem komplett in Präsenz. Wegen der Zeitverschiebung von acht Stunden könne er außerdem sowohl seine Kurse in Taiwan belegen wie auch hier in Gießen. Also tagsüber in Hualien, nachmittags und abends in Gießen.

Foto: 許翔綸
Das ist Shawn an seinem Schreibtisch in Taiwan.

Durch den Webex-Raum nach Gießen

Und wie ist das virtuelle Studieren an der JLU? Er habe viel gelernt über Deutschland, über die Studierenden und das Unileben. Besonders die Art zu denken, zu diskutieren und zu arbeiten unterscheide sich, wie er gemerkt habe. Shawn fühlt sich inzwischen als JLU-Student, anfangs war zwar noch alles distanzierter, aber durch die Gruppenarbeit in seinen Seminaren fühlt er sich als Teil der Studierenden. Und auch durch die Online-Seminare fällt er unter den anderen Studierenden nicht auf, die anderen sehen in ihm nur einen normalen JLU-Studenten. Er selbst merkt manchmal auch gar nicht, wer jetzt einer der „VIP-People“, wie er sie nennt, oder „normaler“ Studierender der JLU sei. 

Mehr Kontakt hat er – im Gegensatz eigentlich zu typischen Erasmus-Auslandssemestern, in denen man meist nur mit anderen Austauschstudierenden zu tun hat – mit Gießener Studierenden als mit anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des VIP. Letztere trifft er vor allem bei den Treffen des Akademischen Auslandsamts, dessen Mentor:innen jeweils drei bis vier Austauschstudierende betreuen. Bei diesen wöchentlichen Treffen tauschen sich die Studierenden und Mentor:innen untereinander aus und es werden neue Sachen über die JLU erklärt. Shawn erzählt, dass es zwar auch Treffen mit JLU-Studierenden gäbe, aber diese könne er wegen der Zeitverschiebung leider nicht besuchen. Nichtdestotrotz ist das VIP für ihn eine tolle Alternative, auch mal mit europäischen Studierenden in Kontakt zu treten, denn normalerweise machen die eher selten ein Auslandssemester in Taiwan. 

Austauschstudent in Teilzeit

Durch so ein virtuelles Auslandssemester ist man ja eigentlich nur ein Teilzeit-Austauschstudierender. Man lebt, isst, schläft und arbeitet bei sich zuhause im eigenen Land – und das kann jedes sein, in dem die JLU eine Partneruniversität hat. Die Vorlesungen und Seminare finden aber woanders statt, nämlich hier in Gießen. Eigentlich müsste sich das doch komisch anfühlen oder? Shawn beschreibt es als „actually a very complicated feeling“, denn: sobald man Webex schließt, ist man wieder in seiner normalen Umgebung. Um einen herum sind die gewohnten Leute, die gewohnte Sprache, obwohl man doch noch kurz zuvor englische Kurse in Deutschland besucht hat. Es ist etwas Ungewöhnliches, in zwei Ländern gleichzeitig zu sein, findet er und sagt darüber: „It’s really cool for me to experience this, because you don’t actually have the chance to do this.“ Selbst bei einem normalen Auslandssemester macht man diese Erfahrung nicht – dort ist man in einem anderen Land und völlig umgeben von dessen Kultur, Sprache und Alltag. Aber durch ein virtuelles Auslandssemester ist es anders, „it’s like having two different cultures at the same time.“

Visum, Wohnung und Weinen nicht nötig

Ein reguläres Auslandssemester geht auch immer einher mit hohen Kosten. Eine neue Wohnung im neuen Land muss her, die alte Wohnung im alten Land muss entweder untervermietet werden oder leer bleiben – aber das muss man sich erstmal leisten können. Ganz zu schweigen von dem komischen Gefühl, aus der Ferne eine Wohnung zu mieten, die man im besten Fall auf Fotos oder per Video gesehen hat, im schlimmsten Fall aber überhaupt nicht. Dazu kommen die eventuellen Kosten für ein Visum – das man ja auch erstmal bewilligt bekommen muss –, die Flüge, die eventuellen Sprachkurse, vielleicht noch eine Auslandskrankenversicherung und natürlich auch die Lebenshaltungskosten im Zielland. Und was man auch nicht vergessen darf: das Getrenntsein von Familie und Freunden für meist vier ganze Monate, was auch erstmal eine große Umstellung ist – meist verbunden mit Tränen und schlimmem Vermissen. Dies alles muss man erstmal bewältigen, wenn man ein Auslandssemester machen möchte. Und nicht immer ist das alles einfach, Shawn erzählt zum Beispiel, dass es in Taiwan schwierig sei, ein Auslandssemester zu machen oder überhaupt ein Visum zu bekommen. Das VIP ist daher für ihn eine gute Alternative.

Aber trotzdem fehlen einige Erfahrungen, die man bei so einem Semester im anderen Land eigentlich so macht. Wie die JLU oder die Campus aussehen, an denen er normalerweise studieren würde, weiß Shawn nur von ergoogelten Bildern. Eine virtuelle Tour oder Ähnliches gibt es für die VIP-Studierenden nicht. Shawn erzählt auch, dass er sich etwas distanziert vom Campus fühlt – es sei ein komisches Gefühl, nur für die Seminare und Vorlesungen zugeschaltet zu sein, aber den richtigen Campus nie zu erleben. Trotzdem ist das VIP für ihn eine tolle Erfahrung. Seiner Meinung nach sollte es fortan beides geben, das VIP und normale Auslandsaufenthalte. 

Das virtuelle Studieren ermöglicht es also, trotz etwaiger Umstände Auslandserfahrung zu sammeln. Man muss sich nicht um Geld oder eine Wohnung kümmern, sondern kann erst einmal hineinschnuppern und das Studieren in einem anderen Land kennenlernen. Und falls man möchte, kann man sich ja immer noch für ein Präsenzsemester im Ausland entscheiden und die JLU in echt kennenlernen.

Lina Matzke
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