Es ist der 09. November 2021 – Jahrestag der Novemberprogrome von 1938 und Anlass einer Mahnwache der Gießener OMAS-GEGEN-RECHTS. Rund 30 Omas haben sich dazu am Gießener Kugelbrunnen versammelt: Manche halten Schilder, andere tragen weiße „OMAS-GEGEN-RECHTS“-Buttons an ihren Jacken. In den folgenden Minuten wollen sie die Namen der Gießener Jüdinnen und Juden vortragen, die den Nationalsozialisten im Dritten Reich zum Opfer fielen. „Wir schweigen nicht, trotz alledem“, sagen sie. Und sie sind viele: Etwa 250 Mitglieder zählt ihre Initiative mittlerweile, die meisten davon zwischen 60 und 75 Jahren. Und gerade weil die Pandemie in den vergangenen Jahren viele Aktionen verhindert hat, wollen sie heute wieder präsent sein.
Eine Predigt im Meer
Der kleine Lautsprecher kratzt leicht in den Ohren, während die Omas in ihr Mikrofon sprechen. Ich sitze auf einer Bank und höre zu. „Wir schweigen nicht“, sagen die Omas und fangen an: In bedächtigem Ton werden die Namen der Jüdinnen und Juden vorgebracht, jede Oma liest ein paar Worte vor: „Name, Alter, ermordet in…“ Unter den Genannten sind Menschen in meinem Alter, dahinter meist ein „ermordet in…“, ganz selten ein „geflohen nach…“, öfter ein „verhungert in…“. Es ist kalt – ein Tag, an dem die Finger steif werden. Dicht und gefasst stehen die Omas beisammen und lesen vor. Es wirkt wie eine Andacht – eine Andacht beinah ohne Publikum: Vor den 30 Omas stehen nur zwölf Menschen, um zuzuhören. Einer davon bin ich. Dabei herrscht reges Treiben im Seltersweg: Ein Meer an Männern und Frauen mit Einkaufstaschen drängt umher, junge Menschen mit Airpods fließen vorbei. Manche werden kurz langsamer, kaum jemand bleibt stehen. Es ist eine Predigt im kalten Meer der Teilnahmslosigkeit.
Wir schweigen nicht
So predigen die Omas in den Seltersweg hinein, doch plötzlich verstummt der Lautsprecher. Eine Frau steht vor dem Mikrofon und hält schweigend die Liste mit den Namen in ihrer Hand. Mit leiser, aber gefasster Stimme fängt sie an, vorzulesen. Der erste Name ist klar zu hören, beim zweiten beginnt ihre Stimme zu zittern. Sie tastet suchend nach ihrem rosa Schal, aber sie macht weiter. Ich denke an den Beginn der Mahnwache zurück: „Wir schweigen nicht“, hatten die Omas gesagt – das sei der Leitsatz ihrer heutigen Demonstration. Doch nach drei Namen ist Schluss: Die Stimme der Frau bricht ab, der Zettel sinkt, ein Schluchzen erstickt im Mikrofon. Eine Teilnehmerin nimmt die weinende Oma in den Arm. Währenddessen geht der Zettel weiter: „Name, Alter, ermordet in …“
Für die Enkelkinder
Die weinende Oma heißt Barbara Müller. Nach der Mahnwache erzählt sie mir, warum ihr dieser Moment so naheging. Gleich vorweg: Ein wenig peinlich sei ihr das Ganze schon, und sie habe sich schnell wieder beruhigen können. Doch während sie diese Namen vorlas, habe sie an ihre Enkelkinder denken müssen. Das habe sie sehr bewegt. Schließlich sei unsere Demokratie gefährdet und man wolle bei dieser Mahnwache daran erinnern, wo das hinführen könne. Da brauche es Menschen, die gegen Feinde der Demokratie auf die Straßen gingen – zum Wohl unserer Kinder und Enkelkinder: „Für mich ist es ganz wichtig, in der Öffentlichkeit präsent zu sein und darauf hinzuweisen, dass unsere Demokratie gefährdet ist, wenn wir weiterhin zusehen, was die AfD macht“, erzählt sie mir. Da könne man nicht zu Hause sitzen und einem Rechtsruck zusehen; man müsse aufstehen. Und Barbara Müller ist aufgestanden. Die heute 74-jährige Oma ist seit drei Jahren bei den Gießener OMAS-GEGEN-RECHTS aktiv und nimmt regelmäßig an Demonstrationen und Kundgebungen teil: „Ich will, dass meine Enkelkinder auch noch eine Demokratie erleben“, sagt sie. Grund zu handeln habe sie dabei schon lange gesehen, und auch an Interesse habe es nie gemangelt: Seit Willy Brandt interessiere sie sich für Politik, sei selbst Parteimitglied, doch alleine habe sie als Oma nicht auf die Straße gehen wollen: „Ich habe immer gedacht: ‚Alleine kann man nichts machen‘. Aber dann habe ich die Omas gesehen und dachte: ‚Ja, das ist es, da mache ich mit'“, erzählt sie lachend. Allein fühle man sich schnell hilflos, doch in einer Gruppe könne man viel erreichen. „Man wird stärker in der Gruppe“, sagt sie. Dort könne man seine Ziele besser umsetzen.
Für eine demokratische Zukunft
Die Aktionen der Initiative OMAS-GEGEN-RECHTS richten sich allerdings nicht nur allgemein gegen Rechtsradikalismus, Rassismus und Demokratiefeindlichkeit. Die Gießener Omas setzen sich auch konkret für bestimmte Dinge ein: für die Rechte von Frauen, für die Gleichstellung aller Geschlechter und für den Schutz einer lebenswerten Umwelt. All das seien Themen, für die die Menschen jetzt Sorge tragen müssten, erklärt Elisabeth Hofmann-Smedberg. Sie ist 70 Jahre alt und hat die Initiative OMAS-GEGEN-RECHTS GIESSEN im Jahr 2018 mit gegründet. Man selbst müsse etwas tun, um es für die Enkel besser zu machen, denn die Rechten bekämen in unserer Gesellschaft zunehmend zu viel Raum: „Wenn das so weitergeht, dann haben wir keine Demokratie mehr“, erklärt sie. „Das macht mir Angst. Ich werde es vielleicht nicht mehr erleben, aber meine Kinder oder meine Enkelkinder.“ Es sei wie bei den Initiativen gegen den Klimawandel: Ihre Nachkommen seien die Leidtragenden, nicht sie. „Wenn man denkt: ‚Meine Enkelkinder und deren Kinder, die können hier vielleicht nicht mehr leben‘ – das kann man sich nicht vorstellen“, sagt sie, „Dann kriege ich Heulkrämpfe.“ Daher müsse man kämpfen, auch als Oma.

Auf die Straße
Das Bild der kämpfenden Frau begegnet mir bei Barbara Müller ebenso wie bei Elisabeth Hofmann-Smedberg. Auf meine Frage, woher die Bereitschaft dazu komme, entgegnen beide: Es sei Teil ihrer Generation. So erzählt Elisabeth Hofmann-Smedberg: „Ich glaube, wir gehören zu den Generationen, die ziemlich viel gekämpft haben: Gegen die Amis, Atomkraftwerke, und alles drum und dran. Wir haben ja immer gekämpft.“ Bei anderen Generationen sehe das etwas anders aus: Die jungen Leute seien zwar politisch aktiv, aber die 30- bis 50-jährigen seien momentan „sehr gesättigt“, erklärt sie und muss lachen. Zwar könne sie das schon verstehen: Man habe mitten im Beruf und mit Kindern im Haus schon viel zu tun. Aber sie selbst habe in diesem Alter auch den Kinderwagen geschoben – „gegen die Amis“, wie sie sagt, mitten in den großen Demos der 1980er Jahre. Das habe sie damals auch nicht gehindert. Auch Barbara Müller erzählt mir, wie sie damals mit ihren kleinen Kindern im Bonner Hofgarten stand und demonstriert hat – als Teil der Ostermärsche gegen die Atomwaffen-Aufrüstung. „Wir sind ja immer auf die Straße gegangen“, sagt sie.
Mit Rückhalt in den Gegenwind
Als Frau habe man es beim Demonstrieren allerdings oft schwer – besonders als Oma. Beide Omas erzählen mir von Beschimpfungen, die sie ertragen mussten: Dass sie keine Ahnung hätten und hinter den Herd gehörten. Auf meine Frage, ob sie deswegen jemals an ihrem Engagement bei den Gießener Omas gezweifelt hätten, antworten beide mit einem Lachen: „Niemals.“
Generell stehe bei Barbara Müller und Elisabeth Hofmann-Smedberg nicht die Kritik im Vordergrund; vielmehr erlebten sie breite Unterstützung für ihr politisches Engagement: „Meine ganze Familie findet das gut. Die sind immer ganz stolz, wenn es heißt: ‚Die Oma ist wieder auf der Straße'“, erzählt Barbara Müller und muss lachen. „Ich werde dann gefeiert.“ Auch Elisabeth Hofmann-Smedberg freut sich sehr über den Rückhalt ihrer Familie: „Ich bekomme unglaublich viel Halt von meinem Mann und meiner Familie“, sagt sie und beginnt zu kichern. „Meine Tochter hat jetzt angerufen und gesagt: ‚Jetzt raus, ab mit dir! Die Sonne scheint, da sollst du richtig Demo machen!'“ Die Unterstützung aus der eigenen Familie helfe sehr, wie mir beide Omas erzählen. So sei man aktiver und könne die Aufmerksamkeit der Menschen gewinnen, um ihren Blick auf dringende Probleme zu lenken: „Wir hoffen, dass wir Gehör bekommen; dass die Menschen aufgeweckt werden und sagen: ‚So kann es nicht weitergehen'“, erzählt Elisabeth-Hofmann-Smedberg. „Manchmal denke ich bei dem Thema Umwelt: Da haben sich einige Leute aufgeweckt.“ Und sie setzt lachend hinzu: „Aber so wach sind sie auch nicht!“
Aufgeweckt sein
Wer nun aber glaubt, das Aufwecken der OMAS-GEGEN-RECHTS wirke sich nur auf Menschen außerhalb der Initiative aus, der hat weit gefehlt. Denn das Aufwecken – das Bewusst-Machen struktureller Probleme – führt auch zu einem Widerhall im eigenen Ich: Manche Omas können nicht nur ein Wecker für andere Menschen sein, sondern auch für sich selbst. Über diesen Prozess spreche ich mit Dorothea Ritter-Röhr, der Haupt-Gründerin der Initiative OMAS-GEGEN-RECHTS GIESSEN. Wir treffen uns in einem Café der Gießener Innenstadt. Schon während ich meine Notizen auspacke, erzählt sie begeistert davon, wie die Omas sie verändert hätten: Erst hier habe sie Dinge verstanden, die sie früher lang und breit im Studium behandelt habe – damals, als sie an der JLU Soziologie studierte: „Ich bin nunmal 68er, da geht nichts dran vorbei, aber ich bin eine total blinde 68er“, erzählt sie. „Ich kann es nicht erklären, aber ich hatte durch diese OMAS-GEGEN-RECHTS einen Wissenszuwachs, der ist phänomenal: Ich habe all das, was ich mal studiert habe, das habe ich plötzlich verstanden. Das ist so verrückt.“
Adornos Samenkorn
In unserem Gespräch erzählt sie viel von ihrer Studienzeit in Gießen und Frankfurt: Wie sie damals politisch interessiert, aber wenig aktiv gewesen sei; wie sie an der Frankfurter Goethe-Universität in Adornos Vorlesungen – ja, Theodor W. Adornos Vorlesungen – gesessen habe, und zwar viel gehört, aber nichts begriffen habe. Dabei sei Adorno einer der größten intellektuellen Kämpfer der Nachkriegszeit gewesen – gegen die Verdrängungskultur und für die Demokratie: „Adorno ist der Inbegriff des Antifaschisten – und ich habe es nicht begriffen“, erklärt Dorothea Ritter-Röhr und lacht kopfschüttelnd. „Das muss man sich mal vorstellen: Ich habe zwei Jahre in Adorno‘s Vorlesung gesessen – das ist doch unvorstellbar – und ich habe nichts begriffen! Und ich habe ein Vordiplom gemacht. Da denke ich immer: ‚Gibt’s das?‘ Und ja, das gibt’s.“ Aber ein bisschen von Adornos Lehre sei doch hängengeblieben, und das sei schließlich im hohen Alter aufgegangen – hier bei den OMAS-GEGEN-RECHTS: Es sei wie ein Samenkorn, das lange zum Keimen gebraucht habe.
Wie alles begann
Dorothea Ritter-Röhr lacht, während sie über die JLU und Adornos Samenkorn spricht. Es ist ein herzliches Lachen und es macht Freude, ihr zuzuhören. Vor mir sitzt eine 78-jährige Frau, die gern erzählt und aufklären will, doch es schwingt etwas mit in ihren Worten, das mir zu denken gibt. Ihr Ton hat etwas Selbstkritisches, etwas Reumütiges, das ich nicht zu fassen kriege und das mich rätseln lässt. Während ich überlege, erzählt sie weiter. Ihr sei bewusst, dass sie eine „schillernde Persönlichkeit“ sei, sagt sie und rückt ihre glitzernde Brille zurecht. Aber gerade dieses Schillernde sei wichtig für die Initiative. Daher ergebe sich auch die Schreibweise: „’OMAS-GEGEN-RECHTS GIESSEN‘ wurde gegründet als Großbuchstaben-Veranstaltung“, erzählt sie mir und lacht. Allerdings sei es kein Verein – ausdrücklich nicht. Ein Verein habe hierarchische Strukturen, und das wollten die Omas auf keinen Fall. Daher bezeichnen sie sich als „zivilgesellschaftliche Organisation“. Und die gibt es nun schon seit einer ganzen Weile: Drei Jahre ist es her, seit die Organisation gegründet wurde. Damals seien sie zu siebt gewesen, erzählt Dorothea Ritter-Röhr – im Siebenkorn, unter anderem mit Elisabeth Hofmann-Smedberg und ihr selbst. Das sei der erste große Schritt gewesen. Schon bald darauf schlossen sie sich einer Demo der Seebrücke auf dem Elefantenklo an und errichteten einen Informationsstand der OMAS-GEGEN-RECHTS GIESSEN. Allein an diesem Tag gewannen sie viele Mitglieder; auch Barbara Müller schloss sich hier den Omas an. Und dann ging es richtig los: „Pro Choice“-Demos, Fridays for Future, AfD-Gegendemos, Mahnwachen, Klimastreiks – überall waren die Gießener Omas präsent.

Dissonanzen
Sie sei sehr stolz auf das, was die Omas erreicht hätten, erzählt Dorothea Ritter-Röhr und nippt an ihrem Milchkaffee: „Was ich so faszinierend finde, ist, dass man im Alter so aktiv und lernfähig ist.“ Allerdings sei das nicht bei allen Omas der Fall, wie sie ergänzt. Das habe zu Dissonanzen geführt, besonders in der jüngeren Vergangenheit: „Ich war oft nicht in der Lage, gleiche Erlebniswelten für mich und die Omas herzustellen“, sagt sie und hält inne. „Ich habe immer andere Erkenntnisse gehabt aus dem, was hier passierte.“ Als Beispiel nennt sie die Mahnwache im Seltersweg vom 09. November 2021 – die Mahnwache für die jüdischen Opfer der NS-Zeit mit dem kratzenden Lautsprecher und der weinenden Oma. Daran habe sie nicht mehr teilgenommen. Ihre Erfahrungen mit der Mahnwache aus dem Jahr 2020 seien dafür zu niederschmetternd gewesen: „Ich habe das im vergangenen Jahr organisiert, zusammen mit anderen Omas“, erzählt sie. „Und danach, nach der Veranstaltung ist mir aufgegangen: Wir haben das gemacht – wir weiße Privilegierte, ohne auch nur ein einziges Mal mit irgendeinem Juden oder einer Jüdin zu sprechen. Und da habe ich mich so für geschämt und war so sprachlos über mich selbst, dass ich das sofort allen mitgeteilt habe – und alle fanden meine Reaktion total übertrieben. Es konnte keiner etwas mit meiner Reaktion anfangen.“ Das habe sie sehr getroffen, berichtet sie. Da hätte es mehr Selbstreflexion der Omas gebraucht, man hätte vor der Mahnwache mit den Jüdinnen und Juden sprechen müssen. Man könne sich nicht über Menschen hinwegsetzen – gerade das wolle man ja verhindern. Doch dazu brauche es eine Auseinandersetzung – nicht nur mit den Betroffenen, sondern auch mit sich selbst. Daher habe sie bei Ihrem Engagement für die Omas auch nach eigenen Anteilen gesucht, „nach Anteilen, die die Historie sozusagen bei mir eingepflanzt hat“, wie sie sagt. Doch dazu müsse man seine Worte auch an sich selbst richten können, sein eigener Wecker sein: „Man muss dazu fähig sein, das, was man von sich gibt, auch ein Stück weit auf sich zu beziehen. Ich habe mich wirklich quälen müssen, um das zu begreifen.“ Besonders bei der Erinnerung an den Holocaust sei das immens wichtig, wie sie betont.
Während wir über die Gießener Juden und den Holocaust sprechen – wir als privilegierte Menschen in diesem Café – wendet Dorothea Ritter-Röhr den Blick ab. Sie ringt nach Worten: „Ich kann doch nicht deren Geschichte okkupieren“, sagt sie mit gebrochener Stimme. „Es ist doch deren Shoah, nicht meine. Oder unsere gemeinsame Shoah.“ Ihr Blick haftet am Boden. Ihr ist anzusehen, wie sehr sie das Thema berührt. Nach einer Weile wendet sie ihr Gesicht zu mir; ich sehe Tränen hinter der glitzernden Brille. „Man muss doch irgendwie diese Gemeinsamkeit herstellen“, sagt sie.
Ein Zugang zur eigenen Vergangenheit
Man müsse sich damit auseinandersetzen, erzählt sie nach einer kurzen Pause: Mit dem Holocaust, dem Rechtsradikalismus und so weiter. Und man müsse dabei einen Zugang finden zur eigenen Vergangenheit. Da habe man als weiße, alte Frau große Hürden zu nehmen: „Ich bin ja steinalt – und ich habe faschistische Anteile in mir“, erzählt sie. „Meine Generation wurde im Krieg erzogen. Wir haben den Faschismus mit der Muttermilch aufgesogen. Da kann ich jetzt nicht sagen: ‚Ich bin die große Antifaschistin.‘ Ich bekämpfe zwar den Faschismus in der Gesellschaft, aber auch die faschistischen Anteile in mir selbst.“ Es brauche Zeit, sagt sie. Zeit, um das aufzuarbeiten und abzubauen, was lang und breit über Generationen gewachsen sei. Man habe viel unbewusst übernommen, erklärt sie. Das alles im hohen Alter umzuwerfen, sei ein Kraftakt. Aber die Omas hätten ihr dabei geholfen: Dadurch, dass sie sich im Rahmen der OMAS-GEGEN-RECHTS immer wieder mit der deutschen Vergangenheit – ihrer Vergangenheit – beschäftigen musste, habe sie einen ganz anderen Blick auf die Dinge bekommen: „Ich musste mich ganz anders damit auseinandersetzen“, erzählt sie. Erst dadurch habe sie neue Perspektiven und Erkenntnisse über die Welt und sich selbst gewonnen, für die sie den Omas unendlich dankbar sei. Allein hätte sie das nie geschafft. „Es ist so schwierig, einen Zugang zur eigenen Vergangenheit zu kriegen, besonders wenn sie durch die Shoah belastet ist“, erzählt sie. „Ich bin aufgewachsen mit Schweigen, mit totalem Schweigen. Später einen Zugang dazu zu kriegen, ist unglaublich schwierig.“ Und was man dann erfahre – was man dann erst erkenne – sei unglaublich schmerzhaft, setzt sie hinzu. Ich frage sie, warum sie sich das alles antue. Sie seufzt: „Ich bin Psychoanalytikerin, da will man immer alles verstehen.“ Reflexion und Verstehen seien Teil der Psychoanalyse, wie sie erklärt. Und da sei noch etwas, ergänzt sie: „Es gibt einem Sicherheit, wenn man etwas versteht.“ Und sie sei dankbar dafür, wie sehr die Omas ihr geholfen hätten, sich selbst besser zu verstehen.
Zwischen Gewinn und Gefahr
Das ständige Kämpfen hinterlasse allerdings auch seine Spuren: Schmerzhafte Erkenntnisse, unliebsame Wahrheiten und innere Erschöpfung. „Ich bin müde von mir selbst“, erzählt Dorothea Ritter-Röhr. Sich zu engagieren, zu differenzieren, unerbittlich die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten und dabei keinen Stein auf dem anderen zu lassen, das koste enorm viel Kraft. Und es sei ein Balance-Akt zwischen Gewinn und Gefahr: „Ich habe das Gefühl, dass ich bei den Omas eine Menge an Erkenntniszuwachs gewonnen habe, und dass mich das aber auch verletzlicher gemacht hat“, erzählt sie. „Und das will ich nicht mehr. Ich habe mich zu viel engagiert. Ich war nur noch Oma.“ Während Dorothea Ritter-Röhr diese Worte spricht, wird mir klar, was darin mitschwingt – was mir seit Beginn unseres Gesprächs zu denken gab: Wer sich bei den Omas engagiert und sich selbst mit in den Blick nimmt, wer die eigene Vergangenheit mit all ihren Überzeugungen ebenso kritisch untersucht wie die Handlungen anderer, der kann Momente erleben, die sehr verletzen können. Und er entwickelt ein tiefgreifendes Bewusstsein für Schuld. Dorothea Ritter-Röhr begegnet mir als eine Frau, die gefangen ist: Gefangen in einem nachvollziehbaren Drang nach historischer Selbsterkenntnis, der ebenso heilt wie schmerzt, wenn man ihn stillt. Den Faschismus in der eigenen Vergangenheit – und damit in sich selbst – zu erkennen, kann daher so viel Raum einnehmen, dass man beginnt, den Kampf nicht mehr nur gegen äußere Feinde zu führen, sondern auch gegen sein eigenes Ich: Man wehrt sich gegen einen Teil von sich selbst – einen Teil, von dem man sich befreien will. Ich frage Dorothea Ritter-Röhr, ob ihre Initiative daher OMAS GEGEN RECHTS heiße. Sie lächelt betreten und nickt: „Man kämpft auch mit einem Teil in sich selbst.“
Abschied
Die Gießener OMAS-GEGEN-RECHTS kämpfen also an vielen Fronten: in Demos auf der Straße, in Gesprächen gegen Kritiker, und manche auch im Umgang mit dem eigenen Selbst. Doch bei allem Eifer bleiben sie realistisch: Sie könnten hier nicht die Welt retten, erklären mir alle drei Omas. Wenn sie mit ihrem Engagement ein paar Menschen zum Umdenken bewegten, dann seien sie schon zufrieden. „Wir konnten vielleicht einige zum Nachdenken bringen“, erzählt Dorothea Ritter-Röhr. „Und wenn es wirklich nur ein bisschen Nachdenken ist, dann wäre schon viel geholfen.“ Dorothea Ritter-Röhr nimmt den letzten Schluck ihres Milchkaffees. Das Café leert sich. Wir verabschieden uns.
Barbara Müller und Elisabeth Hofmann-Smedberg werden wieder auf die Straße gehen – zum Demonstrieren, zum Wachrütteln, zum Kämpfen. Das sei es, was sie sich für die Zukunft wünschen. Dorothea Ritter-Röhr hat sich Ende 2021 aus der Initiative zurückgezogen. Auf meine Frage, was sie sich wünsche, antwortet sie: Frieden.
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