Kennst du viele, kennst du alle?
Alle 10 Minuten verliebt sich ein Single – nicht in Gießen. Bevor man hier auf Liebe trifft, tritt man eher in eine Verbindung ein. In der Stadt ohne Meer, gibt es diese nämlich paradoxerweise, wie Sand am Meer. Frankfurt hat im Vergleich zu Gießen ungefähr doppelt so viele Studierende, aber die meisten Verbindungen hat trotzdem Gießen. Jedes Mal wenn ich durch Gießen spaziere, bleibe ich kurz an den Altbauvillen stehen, staune über den guten Erhalt und laufe weiter. Ich versuche mir vorzustellen, wie der heutige Verbindungsstudent aussieht. Vor meinem geistigen Auge, erscheint ein preußischer Soldat in Sneakern. Bei der ersten Recherche finde ich heraus, dass Markus Söder und Armin Laschet auch Verbindungsstudenten waren – meine Überraschung hält sich in Grenzen. Erst als auch Promis wie Thomas Gottschalk und Klaus Kleber dazuzählen, horche ich auf. Mein Bild vom preußischen Sneaker Enthusiasten und „kennst du viele, kennst du alle“ greift offenbar doch nicht.
Plötzlich Verbindungsstudent?
Ich spreche mit Tim und Lukas. Um ihre Anonymität zu wahren, wurden die Namen geändert. Beide kommen aus unterschiedlichen Verbindungen und sind aus unterschiedlichen Gründen beigetreten. Lukas, der laut eigenen Angaben in einer unpolitischen, fechtenden Burschenschaft ist, wurde von der billigen Miete gelockt. Er gibt zu, dass die Regeln im ersten Moment etwas befremdlich waren. Die zweiwöchige Probezeit gab ihm jedoch den Mut es trotzdem auszuprobieren. Während Lukas sich bewusst für die Verbindung entschied, war es bei Tim eher Zufall. Auf einer Party lernte er Verbindungsstudenten kennen, mit denen er sich gut verstand. Nach ca. einem Dreivierteljahr beschloss er beizutreten.
Er wurde aber nicht sofort ein vollwertiges Mitglied. Erst nachdem die zweiwöchige Probezeit gut verlaufen war, konnte die Probezeit als Fuchs folgen. Um Fuchs zu werden, müsse man aber nicht, wie in den amerikanischen Verbindungen, Mutproben machen. Für die meisten Bünde reiche es, männlicher Student zu sein. Ein Fuchs habe im Verhältnis zum vollwertigen Mitglied weniger Mitspracherechte, dafür aber auch weniger Verantwortung. Außerdem habe man es als Fuchs auch leichter mit dem Austritt. Bei einem vollwertigen Mitglied werde eine schriftliche Begründung für den Austritt erwartet. „Man hat sich z.B. mit vielen verstritten oder es gibt irgendwelche wichtige Entscheidungen mit denen man nicht klarkommt“, sagt Lukas. Es sei zwar nicht gerne gesehen, aber im Endeffekt könne einen auch keiner zur Mitgliedschaft zwingen.
„Trinken ist keine Pflicht“
„Irgendwann wurde ich aufs Haus zu einer Party eingeladen – ganz normal bei ihnen an der Theke“, erzählt Tim beiläufig als Teil seiner Verbindungsstudenten-Story. Wo eine Theke ist, lässt es sich gut trinken – und das tun Verbindungsstudenten auch! Eine greifbare Antwort auf das „Warum?“ kriege ich nicht. „Weils Spaß macht?!“, sagt Lukas schmunzelnd. Beide bedienen sich am Klischee, dass Studierende ohnehin viel Alkohol konsumieren. Aber nur den wenigsten gewöhnlichen, studentischen WGs sagt man ein Bierlager oder eine Partytheke nach. Es wirkt auch so, als würden Verbindungstraditionen, wie das Couleurbummeln und die Kneipe zum Trinken einladen. Das französische Wort für Farbe – Couleur – bezieht sich auf die Verbindungsfarben. Ohne Ankündigung und mit einem Kasten Bier ausgestattet, besuchen sich Verbindungen gegenseitig. Bei der Kneipe – einer Art Verbindungsparty – kommt man zusammen und trinkt auf Kommando. Eine Verpflichtung zum Trinken gebe es nicht; einige der Verbindungsstudenten tränken gar keinen Alkohol. Bei offiziellen, repräsentativen Veranstaltungen, wie einem Ball, werde es sogar sehr ungerne gesehen, dass sich jemand volllaufen lässt. Ich weiß nicht was hinter verschlossener Tür passiert, also hoffe ich einfach, dass es stimmt.
„Keine Sekte oder so…“
Um das Leben in einer Verbindung bildlicher zu machen, vergleichen sie es mit dem Leben in einer WG oder in einem Sportverein. Jemanden, der die Verbindung leitet, gibt es nicht. Dafür aber einen Vorstand, in das jedes Vollmitglied einmal rein muss. Unter Leitung dieses Vorstandes wird jedes Semesters, ein Semesterprogramm erstellt. Dort sind alle geplanten Veranstaltungen aufgeführt. Regelmäßig finden Konvente statt – Meetings bei denen aktuelle Punkte zu Konflikten und Veranstaltungen besprochen werden. In der Verbindung von Lukas wird von Montag bis Donnerstag gemeinsam Mittag gegessen, gekocht wird von einer Köchin. Auch Tims Verbindung wird von einer Reinigungskraft unterstützt, die sich vor allem um die Gemeinschaftsräume kümmert. Ich möchte von Tim wissen, ob es auch ein Leben außerhalb der Verbindung für ihn gibt. „Es ist ja keine Sekte, man hat einen ganz normalen Alltag“, antwortet er. „Ich gehe in die Uni, ich gehe mit Freunden in die Kneipe. Es wird auch immer wieder gesagt: ‚Es gibt noch ein Leben außerhalb‘.“
Man schlägt sich und dann ist alles gut
Nicht nur die politischen Ideologien von einigen Verbindung stehen in der Kritik, sondern auch die Mensuren. Unter Mensuren sind gewinnerlose und potentiell-gefährliche Fechtduelle zu verstehen. Da es am Ende keine Gewinner gibt, sei es Ziel bei dieser Aktivität die Persönlichkeit zu stärken, Ängste zu überwinden und Konflikte zu deeskalieren. Zu einem Duell kann dann aufgefordert werden, wenn sich jemand beleidigt fühlt. „Da hat der eine dem anderen Mal die Freundin ausgespannt. Er hat sich sehr beleidigt davon gefühlt und dann eben von diesem Recht Gebrauch gemacht. Das sind dann in der Regel auch so Partien, wo mindestens einer getroffen wird“, sagt Lukas nüchtern. Ernüchtern war es bestimmt auch, als die Freundin nach dem Duell nicht zurückgekommen ist. Es dürfe sich hierbei aber nur mit Studenten aus schlagenden Verbindungen duelliert werden, nicht mit den eigenen Bundesbrüdern. Seit seinem Beitritt in eine schlagende, sprich fechtende Verbindung, trainiert auch Lukas regelmäßig für Mensuren. Obwohl es ein vermeidlich ungefährlicher Sport sei, kann es zu Verletzungen kommen. Lukas, dem bis jetzt noch nichts passiert ist, vergleicht es mit einem Autorennen: „Je schneller man ist, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass man sich verletzt“ Für diesen Fall sind bei den Mensuren Ärzte vor Ort. Vor seinem ersten Duell, sagt Lukas, war er sehr aufgeregt, mittlerweile macht es ihm viel Spaß.
Nicht unter einem Dach
„Ich gebe nicht damit an, Verbindungsstudenten zu sein“, sagt Tim. Vielleicht, weil ihn ein Fremder auf einer Party mal als „scheiß Nazi“ bezeichnet hat. So etwas ist aber eher eine Ausnahme, die meisten stellen ihm kritische Fragen. Fragen, denen sich Tim bewusst stellt. Für ihn sind die Damenverbindungen den Männerbünden gleichzustellen. Trotzdem sind sie keine gemischte Verbindung. Es ist eine Frage der Dynamik, sagt Tim vorsichtig, unter Jungs sei es einfach anders. Doch auch unter Jungs gibt es Unterschiede. Also frage ich wie der Umgang mit Homosexualität ist. Solange der Bundesbruder den Verantwortungen gerecht wird, spiele die Sexualität für Tim keine Rolle. In rechten Verbindungen sei es vermutlich anders. In Bezug auf Rechtsextremismus, wird öfter der Dachverband erwähnt. Ein Dachverband vereinigt eine Großzahl an Burschenschaften. Er gibt Regeln und Kriterien vor, an die sich seine Burschenschaften richten müssen. Häufig vertreten Dachverbände nationalistische Einstellungen, weswegen auch die Verbindung von Lukas aus ihrem Dachverband ausgetreten ist. Nach außen sind die Verbindungen von Tim und Lukas neutral, intern diskutieren sie aber viel und gerne über Politik. Laut eigenen Angaben ist ein bisschen von jeder Partei in ihren Verbindungen vertreten. Überhaupt ist überraschend, wie viele aktuelle Bundestagsabgeordnete, wie Laschet, Söder und Merz Verbindungsstudenten waren. Zufall? Oder eher ein klassischer Fall von Vitamin B?
„Ich warte noch auf mein Jobangebot zum CEO“
Lukas erzählt mir wie seine Eltern auf seinen Betritt reagierten. „Mein Vater hat sich gefreut, weil man so auch gute Kontakte knüpfen kann“, sagt er. Als Verbindungsstudent macht man natürlich im Idealfall Freunde fürs Leben. Ein breitaufgestelltes Netzwerk kann man sich auch aufbauen. Demzufolge hat der Vater auch nicht unrecht; überrascht hat es mich trotzdem, dass die erste Assoziation gute Kontakte waren und nicht etwa eine Skepsis zur politischen Haltung. Bisher ergaben sich für Lukas so nur kleinere Nebenjobs. Tim sagt lachend, dass er noch auf sein Jobangebot zum CEO wartet. Von den ehemaligen Verbindungsstudenten, den sogenannten Alten Herren, könne man viel dazulernen und sich inspirieren lassen. Natürlich sei es auch vorteilhaft jemanden zu kennen, der in einem Wunschunternehmen sitzt. Es kommt aber keiner auf einen zu und sagt: „hier ist eine Stelle für dich“, dafür müsse man dann doch Eigeninitiative ergreifen.
„Wir sind nur noch ein Haufen Studenten“
Es fängt alles als Fuchs an und hört als „Alter Herr“ auf. Auch für Lukas und Tim ist das das Ziel. Nach ihrem Studium möchten sie als Alte Herren ihre Verbindung mit einem kleinen dreistelligen Jahresbetrag unterstützen. Was ihnen von ihrer Zeit als Verbindungsstudent bleibt, sind ihre Erinnerungen: für Lukas seine Fecht-Skills, ein Bund fürs Leben und eine erleichterte Leber. Wie die Zukunft für Verbindungen aussieht ist ungewiss. Bereits jetzt nimmt die Zahl der Verbindungsstudenten ab. Um attraktiver zu werden, denken die Verbindungen über die Modernisierung der Wohnräume nach. Doch das Problem ist nicht die Inneneinrichtung, sondern dass sich viele junge Menschen nicht mit den konservativen Werten der Verbindungen identifizieren. Zum einen, weil Menschen an ihren vorgefertigten Meinungen, und zum anderen Verbindungen an ihren Prinzipien festhalten möchten. Der preußische Soldat in Sneakern vom Anfang hat sich aufgelöst. Vor meinem geistigen Auge sehe ich jetzt nichts mehr. Nicht weil ich verwirrt bin, sondern weil es nicht nur die eine Art Verbindungsstudent gibt. „Wir sind nur noch ein Haufen Studenten, die zusammenwohnen und Traditionen pflegen“, hat Lukas am Ende unseres Gespräches gesagt. Für jetzt soll mir das reichen.
- A Blast From the Past: Verbindungsstudenten - 23. Dezember 2021