Die neunte Auflage des Gießener WG-Flohmarktes erweckte in diesem Jahr wieder viele WGs, Gärten und Hinterhöfe zum Leben. Eine perfekte Gelegenheit, um neue Winkel der Stadt zu erkunden. Eindrücke einer Reise durch die Stadt, die über Nacht zum Flohmarkt wurde.

Es ist laut in dem kleinen Hinterhof, der mir bislang nie aufgefallen war. Inmitten einer Menge junger Menschen inspiziere ich einen verlockenden Pappkarton mit der Aufschrift „DVDs“ auf seinen Inhalt. Um mich herum stapeln sich Kleidung, Schmuck und andere Habseligkeiten, die sich der fließenden Menge anbieten. Neue Menschen strömen herein. Das Stöbern beginnt. Es ist WG-Flohmarkt in Gießen.

Foto: Adrian Mertes
Eines der vielen Plakate, die auf die Stationen des Flohmarkts hinweisen.

Ich befinde mich an der Station „Green Hill 26“ und unterhalte mich mit Jessica. Während am Tisch nebenan ein Student schwärmend einer Gruppe Studenten sein selbstgebrautes Bier anpreist, erzählt mir die junge MFKW-Studentin, was sie zur Teilnahme an dem Flohmarkt-Projekt bewogen hat: Es ist der Spaß am Handeln und Kennenlernen. Mein Blick fällt auf eine Inception-DVD. Ein unschlagbares Angebot für einen einstelligen Hartgeldbetrag. Begleitet von der Elektromusik des Nachbarhof-DJs verstaue ich die DVD in meinem Rucksack. Es ist 18:57 Uhr und ich ahne noch nicht, welch langer Abend es werden wird.

Insgesamt besteht die neunte Auflage des Gießener WG-Flohmarkts in diesem Jahr aus 38 Stationen, davon 35 WGs. Wer Interesse hat, sein Eigentum zu dem eines anderen werden zu lassen, kann sich online registrieren, Namen und Ort seiner Location angeben und wird auf dem Stadtplan vermerkt. Spezielle Vorgaben oder eine Standgebühr gibt es nicht. Das geschieht ganz bewusst, betont Laura Isabelle Schachta, ehemalige Studentin und Gründerin des Projekts. Die beeindruckende Kreativität der Studenten mache genaue Vorgaben durch den Veranstalter schlichtweg nicht notwendig. Jene Kreativität sollte ich an diesem Abend noch in vielen Weisen erleben. Bunte Punkte auf dem Stadtplan locken mit interessanten Namen zu neuen Stationen.

Timing & Rasenmähen

Es ist 19:14 Uhr und mehrere Bücher in der „Eichhörnchenhöhle“ wecken mein Interesse. Bei einer Temperatur von 24 Grad beginne ich daran zu zweifeln, ob Pulli und Jacke wirklich nötig waren. Der kleine, leicht schattige Garten kommt sehr gelegen. Wie die 24-jährige Psychologiestudentin Anne mir erzählt, wurde dieser schnell in eine Flohmarkt-Location verwandelt. Das Timing sei perfekt gewesen, da einige Mitbewohner neu hergezogen seien und kistenweise Kram mitgebracht hätten. Der WG-Flohmarkt sei daher sehr praktisch, um Platz zu schaffen. Ebenso sei das Projekt eine willkommene Motivation zum Rasenmähen. Anne schenkt mir einen frisch gemixten Smoothie ein. Ich betrachte den sauber gemähten Rasen. Als Teil einer kleinen Gruppe interessierter Flohmarktgänger in dem beschaulichen Garten gehöre ich an diesem Samstag zu den mehr als 1.000 Teilnehmern an dem Gießener Projekt, wie Gründerin Laura schätzt. Der subjektive Eindruck übertrifft allerdings meine Erwartungen. Überall tummeln sich junge Menschen.

Foto: Adrian Mertes
Ein Werbeplakat und bunte Ballons bewerben die Station „Eichhörnchenhöhle“.

Nach einem kleinen Pfeffi-Shot am „K1“ und dem Erklimmen der Dachgeschoss-Wohnung alias „Love Yourself“ im vierten Stock eines Wohnhauses führt mich der Weg vorbei an einem ebenso gut besuchten wie beschallten Vorhof zu der Station „Im Grünen“. Die harte Elektromusik des benachbarten Vorhofs geht über in die sanfte Popmusik der Live-Band im Garten hinter dem Haus. Ich betrachte erneut das gemähte Gras. Überall lockt Flohmarktware. Tische wurden aufgebaut, Bänke aufgestellt. Alles wird zur Warenfläche. Beeindruckt von der Tragkraft der Wäscheleine lausche ich der Band „tante doktor“, welche begleitet von mitklatschenden Zuschauern „Drops of Jupiter“ von Train spielt. Es ist eine von unzähligen Live-Bands und DJs, die an diesem Tag in den Gießener WGs, Gärten und Hinterhöfen spielen. Mein Blick wandert langsam an der Wäscheleine entlang. Ich sehe Kleidung, Krimskrams, noch mehr Kleidung und ein grimmiges Yoda-Gesicht eines mannshohen Star-Wars-Plakats. Die klatschende Menge bleibt hinter mir zurück. Die Reise geht weiter.

Gin mit Tonic

Meine Uhr zeigt 20:01 Uhr. Ich sitze auf einer Bank vor dem Uni-Hauptgebäude und warte auf meinen Mitbewohner Matthias. Ein junger Mann mit wassertrübem Blick rennt umher und macht mit einem Mutter-Gottes-Plakat Werbung für selbstgemischten Gin Tonic. Ich bestelle zwei. Es schmeckt tatsächlich etwas nach Tonic. Nachdem Matthias sich mir angeschlossen hat, führt uns unser Weg zu „Cheaper K-Head“ und dem „Flohmarkt in der Fabelwald-WG“. Der Live-DJ spart nicht an der Nebelmaschine. Mir wird bewusst, warum dieser Platz in der Menge frei war. Mein Sichtfeld wird marginal. Ausatmen funktioniert ohne Probleme. Umgeben von dem Dampf, der in meine Lunge strömt, frage ich mich, wie das alles angefangen hat. Was war der Ursprung des studentischen Flohmarkt-Projekts?

Von der Idee zum Projekt

Zunächst einmal, erzählt Projektgründerin Laura, begann das Konzept des WG-Flohmarkts als lustige Idee. Diese kam ihr im November 2011 bei einem weiteren Gießener Studentenprojekt: „Gießen kocht!“. Aus dem witzigen Vorschlag wurde im folgenden Jahr die reale Umsetzung. „Die Idee ging mir nicht mehr aus dem Kopf“, erzählt Laura. Als die damals 24-jährige MFKW-Studentin das Projekt anstieß, ahnte sie noch nicht, dass die anfänglich 4-5 WG-Bewerbungen kurz vor Start auf 14-15 Anmeldungen anwachsen würden. Das Feedback war von Anfang an sehr positiv. Aufgrund der vielen Bewerbungen musste die Zahl der Stationen ab dem Jahr 2015, als ganze 52 WGs sich für das Projekt beworben hatten, sogar begrenzt werden, damit der Besucherzustrom pro WG konstant gehalten werden konnte. Daher liegt die Anzahl der Stationen nun meist zwischen 30 und 40 WGs, die für ein vielseitiges Angebot sorgen. Laut Projektgründerin Laura sind allerdings nicht nur die unfassbare Atmosphäre, viele neue Gespräche und Kontakte die Hauptgründe, aus denen jeder Student einmal an dem Ereignis teilgenommen haben sollte, sondern auch das Erkunden der Stadt selbst: „Der WG-Flohmarkt ist eine super Möglichkeit, die Stadt auf eine andere Art und Weise kennenzulernen“, schwärmt Laura. Und tatsächlich bietet das Betreten vieler zuvor unbekannter Orte eine interessante Möglichkeit, um Teile von Gießen neu zu entdecken und aus neuen Perspektiven zu betrachten.

Höhenluft & Schokobrownies

Ich übe mich im Entdecken. Auf der Couch der Dachterrasse neben mir sitzen Stephanie und Max, stolze Inhaber der Station „Dachterrassen-Shopping“. Ein warmer Wind weht über die Dächer Gießens hinweg und lässt die weißen Luftballons am Geländer tanzen. Stephanie hat Brownies gebacken. Die 24-jährige BWL-Studentin nutzt die Gelegenheit, um für einige ihrer Klamotten neue Besitzer zu finden. Und obwohl ihr nach eigenen Angaben schon ein Kleid gestohlen wurde, ist sie guter Dinge und erzählt uns von ihren heutigen Erlebnissen. Ich teste einen Brownie auf seine Schokoladigkeit. Jeder kann bekanntlich irgendetwas. Ich nicke zufrieden. Aus den Untiefen jenseits des Geländers klingt die Rockmusik einer Live-Band aus einem Hinterhof. In unserer kleinen Gebirgs-Oase entwickeln wir neue Ideen in Kooperation mit dem heutigen Projekt. „Der WG-Flohmarkt wäre perfekt für eine Singlebörse“, lacht Stephanie. Ich vernehme ein Echo aus dem Tal. Wir reden über die Umsetzung des Projekts „WG-Single-Fleemarket“. Auf Englisch klingt alles besser. Der Wind trägt den Duft von Essen auf unseren Gipfel. Noch einen Moment entspannen in der Wärme des beginnenden Sonnenuntergangs.

Foto: Adrian Mertes
Stephanie und Max mit ihrer Station „Dachterrassen-Shopping“.

Um 20:46 Uhr beginnen wir mit dem Abstieg. Ziel ist der Herkunftsort der Rockmusik. In dem entdeckten Hinterhof bei „Rock and Trödel“ treffe ich Jens in seinem Pommes-Frites-Stand. Wieder gewinnt ein Ort an Farbe in der kargen Landschaft meines mentalen Stadtplans. Und wir haben noch viel vor. Terra incognita. Der 27-jährige Grundschullehramts-Student ist gerade dabei, Pommes Frites herzustellen und diese den Besuchern mit eigenen Soßenkreationen anzubieten. Selbst zu kochen, bedeutet ihm sehr viel, wie er selbst sagt. Würde er, so erzählt er weiter, nun 50.000€ gewinnen, so würde man ihn keine Woche später in einem Foodtruck beim Kochen wiederfinden. „Ich finde es wunderbar, wenn Leute von selbstgemachtem Essen glücklich werden“, erzählt er mir mit Blick auf die hüpfenden Kartoffelstifte in seiner sprudelnden Fritteuse. Ich merke, wie er für seine Leidenschaft lebt. Die Pommes Frites schmecken köstlich. Hoch über uns tanzen die weißen Luftballons am Geländer im Wind.

Die Arten des Entdeckens

Seine Begeisterung erinnert mich an die von Projektgründerin Laura. Sie erwähnt, dass sie ein Fable für alte Gebäude habe und sich dafür einsetzt, für den Ort der Aftershow-Party jedes Jahr ein anderes Gebäude zu wählen. Dabei sollen es gerade keine typischen Club-Locations sein. Laura betont, wie wichtig es ihr ist, den Besuchern neue Orte und Gebäude zu zeigen, die diese noch kaum oder gar nicht kennen. Nach dem Erkunden neuer WGs und dem Knüpfen neuer Kontakte soll am Ende das Entdecken einer neuen Location den Tag abrunden. Dazu wurden in den letzten Jahren unter anderem Gebäude der alten Poliklinik, eines alten Fitnessstudios oder Möbelhauses sowie das alte Kellertheater ausgewählt.

The Art of the Deal

Meine Augen schweifen über die stilvollen Altbaufassaden der Liebigstraße. Sanfte Pastelltöne schimmern neben dunklen Bäumen und hellen Laternen und im schwachen Abendlicht. Wir betreten den Hof der Station „Onkel Emma“. Eine alte Jazz-Gitarre hat mein Interesse geweckt. Kniend betrachte ich das angelehnte Instrument und erkundige mich nach dem Preis. „Momentan kostet sie 440€“, sagt die Verkäuferin. Ich blicke stumm auf die 20€ in meinem Portemonnaie. „Verhandlungsbasis.“, ergänzt die Verkäuferin. In mir regt sich die Idee zu feilschen. Ich seufze.

Der Weg durch die warme Abendluft ist sehr angenehm. An der Station „Alizzle“, übt eine riesige gelbe Gummiente ihre Anziehungskraft auf uns aus. Wir betreten den Garten. Der DJ lässt Falco durch seine Anlage scheppern. Ich trauere um meine Gitarre. Matthias krault die Gummiente. Wir machen uns auf den Weg zur Innenstadt.

Foto: Adrian Mertes
Die Gummiente: Farblicher und räumlicher Mittelpunkt der Station „Alizzle“.

Um 21:43 Uhr betreten wir das „Loft im Hof“. Im hinteren Garten thront eine imposante DJ-Station. Es scheint eine Anlage zu sein, die imstande ist, Musik mit all ihren Feinheiten wiederzugeben. Der Traum eines jeden Komponisten, dem es am Herzen liegt, das wahre Wesen seiner Musik zu verkörpern. Ein technologischer Höhepunkt der menschlichen Musikkultur. Es läuft Techno. Matthias betrachtet einen bunten Stuhl, der ihn zu interessieren scheint. Ich betrete das Loft. Mein Blick trifft viele interessante Gegenstände, über deren Nicht-Besitz ich mich allerdings nicht gräme. Antiquarische Wappenhalterungen und vergoldete Wandkerzenhalter ringen mir ein respektvolles Nicken ab. Ehrwürdig bleibe vor einem monströsen Computer stehen, der mir aus dem letzten Jahrhundert zu stammen scheint. Bunter Hochglanz-Lack bedeckt die runden, fließenden Formen des Apparats. Er wirkt wie ein Kloß. Ich frage mich, ob in dem Kloß noch ein Zweitaktmotor verbaut ist. Alles wirkt wenig benutzerfreundlich. Manche Dinge traue ich mich gar nicht erst zu berühren. Ein antikes Küchengerät droht durch meinen bloßen Anblick auseinanderzufallen. Ich verlasse das Loft. Die Technomusik schließt mich in ihre Arme. Der Beat hat sich nicht verändert. Matthias hat den Stuhl gekauft.

Foto: Adrian Mertes
Matthias‘ Heimweg durch die abendliche Gießener Innenstadt.

Wir laufen durch die lauwarme Gießener Innenstadt. Das warmweiße Licht der Straßenlaternen und geschlossenen Geschäfte säumt unseren Weg. Matthias trägt seinen Stuhl durch die aufkommende Nacht. Die letzte Station wartet auf uns: „Zum goldenen Rennkamel by Zirkus Panne“. Um 22:13 Uhr erreichen wir unser Ziel. Das Flohmarkttreiben hat sich gelegt. Nun tanzen junge Menschen mit leuchtenden Hula-Hoop-Ringen zu Techno-Musik. Matthias bildet auf seinem Stuhl einen Ruhepol in der bewegten Menge. Einer von uns wird das frisch erworbene Kleinmöbel heimbringen müssen. Matthias versichert mir, dass ich nicht dieser jemand sein werde. Ich nehme mir vor, mich bei Bedarf auf diese Aussage zu berufen. Ich bewundere die Farben der Neon-Ringe. Wir entschließen uns, noch kurz zu bleiben…

Der Heimweg

Meine Uhr zeigt 00:19 Uhr. Wir begegnen vereinzelten Menschen, ebenfalls auf ihrem Heimweg mit erstandenen Habseligkeiten. Der Stuhl drückt leicht unangenehm auf meinen Schultern. Wir passieren den Hof des Bierbrauers, in dem alles begann. Ich habe das Gefühl, irgendetwas vergessen zu haben.

Für weitere Infos: Hier geht’s zur Homepage des Projekts.

Adrian Mertes
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