Erneut neigt sich ein Semester seinem Ende zu. Während sich nun die meisten Studierenden erstmal in alle Himmelsrichtungen zerstreuen, sich der Arbeit zuwenden oder sich vorbildlich an die Hausarbeiten machen, endet für andere mit der Abgabe der Bachelor- oder Masterarbeiten nicht nur das Semester, sondern auch das Studium. Doch was jetzt?

Mandy und Martin haben sich für einen ungewöhnlichen Ansatz entschieden. Anstatt sich der eigentlich angedachten sozialen Arbeit zu widmen und in Ihrem ursprünglichen Studiengebiet zu arbeiten, haben die beiden sich selbstständig gemacht – als Tätowiererin und Fotograph. Wir haben mit ihnen über ihre ungewöhnliche Wahl und das Leben als Selbstständige gesprochen.

„Ich hätte mich das glaube ich selbst nie getraut. Irgendwann konnte Mandy schlicht nicht mehr mit ansehen, wie ich jeden Tag von der Arbeit kam.“ So begründet Martin mit einem Jahr Abstand seine Entscheidung, seinen ersten Job als Angestellter in einem Behindertenpflegeheim zu kündigen und sich mit seinem Hobby, der Fotographie, selbstständig zu machen. Nach seinem Studium in außerschulischer Jugendbildung und Soziologie, das er 2017 mit seiner Bachelorarbeit abschloss, hatte er hier seinen ersten Job gefunden. Die Idee, sich auch beruflich mit der Fotographie zu beschäftigen, hatte er zu diesem Zeitpunkt jedoch schon länger im Kopf. Was ihn letztlich dazu bewogen hat, den riskanten Schritt Richtung Selbstständigkeit auch tatsächlich zu wagen, kann er nur noch schwer benennen. Schon über eine längere Zeit hatte er sich in seinem Job aus verschiedenen Gründen unwohl gefühlt. Zudem hatte er in seiner Freundin Mandy gleichzeitig immer eine Art Vorbild im Thema Selbstständigkeit vor Augen. Schlussendlich wagte er den Schritt selbst und hat sich mittlerweile auf Band- und Konzertfotographie fokussiert.

Mandy hatte sich nämlich schon ein Jahr vorher für diesen Weg entschieden und ihr eigenes Tattoo-Studio eröffnet. Dabei war sie anfangs eher zufällig an das Tätowieren geraten – und zwar durch ein ungeplantes Praktikum. Als 2015 alle anderen Mitstudenten wie geplant ihr Praktikum absolvierten, hatte Mandy dieses, da sie es ein Jahr zuvor vorgezogen hatte, bereits absolviert. Da kam ihr die unverbindliche Idee, zum Zeitvertreib doch mal etwas anderes zu probieren und beim lokalen Tattoo-Studio nachzufragen – dort an der Theke zu arbeiten könnte ja danach auch ein cooler Nebenjob werden. Da sie jedoch während ihres Praktikums irgendwann immer weiter in das Tätowieren eingeführt wurde und dabei ihr eigenes Talent für das Zeichnen entdeckte, wurde ihr nach Ende des Praktikums spontan ein Ausbildungsplatz angeboten, den Mandy annahm. In den verbleibendenden zwei Semestern war sie also neben dem Studium noch zwei Mal die Woche im Studio und ließ sich zur Tätowiererin ausbilden.

Foto: Martin Müller

Als sich dann nach dem Studium der ursprüngliche Plan, erstmal in der sozialen Richtung zu arbeiten, durch den langen Prozess der Jobsuche und dem Ausstellen der nötigen Zeugnisse immer weiter hinzog, kam schließlich von Mandys Vater die Idee, es doch einfach mal mit dem Tätowieren zu versuchen. Ein kleiner Laden war schnell gefunden, also eröffnete Mandy, die studierte Erziehungswissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt außerschulische Bildung, nur wenige Monate nach Abschluss ihrer Universitätslaufbahn ihr erstes Tattoo-Studio.

Dabei waren die Reaktionen auf den Schritt in die Selbstständigkeit nicht immer positiv. „Jeder kriegt natürlich mit, dass Selbstständige speziell in der künstlerischen Richtung oft Probleme haben“, erzählt Martin. So war neben einigen Freunden speziell auch die Familie zunächst kritisch, letztendlich stand aber auch sie hinter dem neuen Job.

Finanziell waren die beiden auf die Selbstständigkeit vorbereitet. Während Martin sich über ein halbes Jahr Teile seines Gehaltes zurücklegen konnte, hatte sich Mandy durch ihr Kleingewerbe im alten Studio bereits eine kleine finanzielle Basis geschaffen. Auch große Anschaffungen brauchte keiner der beiden – denn mit Fotographie- bzw. Tattooequipment hatten sie sich schon vorher nach und nach ausgerüstet.

Als es dann wirklich losging, war Mandy von ihrem schnellen Erfolg selbst überrascht. „Das es von Anfang an so gut läuft, hatte ich nicht erwartet. Ich hatte zwar schon einen kleinen Kundenkreis, konnte mich aber nach der Eröffnung meines Studios von Anfang an vor Kunden kaum retten!“ Woran das lag? Mundpropaganda und Weiterempfehlungen unter Freunden und bereits gewonnenen Kunden, Social Media Präsenz auf Instagram und Facebook – und Sticker, die von Besuchern des Studios in der Region verteilt wurden. „Ich hatte beispielsweise mal eine totale Welle an Kunden aus Fulda“, erinnert sich Mandy und schmunzelt. „Als ich dann mal nachgefragt habe, wie sie auf mich aufmerksam geworden waren, hat mir eine Kundin erzählt, dass meine Sticker auf jedem Aschenbecher in der Uni-Mensa in Fulda kleben“.

Foto: Martin Müller

Das Arbeiten als Selbstständige beurteilen beide mit etwas Abstand zum aufregenden Start differenziert. Mandy haben am Anfang vor allem die ungeregelten Arbeitszeiten zugesetzt. „Selbstständig – das heißt selbst und ständig. Du bist immer am Arbeiten.“ Als Tätowiererin müsse man immer für Kunden erreichbar sein und werde auch privat immer auf seine Arbeit angesprochen. „Da muss man irgendwann für sich eine klare Grenze ziehen“, erzählt Mandy, „sonst geht man kaputt“. Das gleiche Problem sieht auch Martin in Bezug auf die Fotographie. „Als selbstständiger Fotograph musst du immer unterwegs sein, um finanziell über die Runden zu kommen.“ Das sei besonders für Freunde mit Familien schwer zu leisten.

Auch eine Krankheit kann als Selbständige leicht zum Problem werden. Zwar hat Mandy eine Absicherung bei längeren Krankheiten, bei einer Erkältung einfach mal einen Tag zu Hause zu bleiben, sei aber schwer mit dem Job zu vereinbaren. Kunden würden sich teilweise extra freinehmen, um einen der heiß begehrten Termine zu ergattern und seien dann auch dementsprechend enttäuscht, wenn dieser kurzfristig abgesagt wird. Urlaube kann sie sich zwar leisten, muss jedoch die verpassten Einkünfte dann auf anderem Wege wieder eintreiben. „Wenn ich nicht arbeite, kommt kein Geld in die Kasse. Wenn ich Urlaub nehmen will, muss ich also immer vor- oder nacharbeiten, um ihn mir leisten zu können.“

Genau diese selbstständige Arbeitsteuerung ist es jedoch, die die beiden gleichzeitig als große Freiheit ansehen. „Wenn ich weiß, dass ich beispielsweise an einem Tag zu einer Hochzeit möchte, halte ich mir diesen Tag frei und lege mir die Arbeit auf den nächsten“, erklärt Mandy. „Das ist schon cool.“ Ganz besonders betonen die beiden auch immer wieder die einzigartige Möglichkeit, sich ihre Kunden selbst aussuchen zu können. Dabei suche man sich zwangsläufig die Aufträge heraus, die einen am meisten interessieren und arbeite fast immer mit Kunden, mit denen man sich auf zwischenmenschlicher Ebene gut versteht.

Ob Mandy und Martin den Schritt in die Selbstständigkeit auch ohne abgeschlossenes Studium gewagt hätten? Wahrscheinlich nicht, denkt Martin. „Dafür wäre ich zu ängstlich gewesen. Im Zweifelsfall wäre ich da doch auf Nummer Sicher gegangen.“ Auch Mandy hatte ihr abgeschlossenes Studium bei der Umorientierung immer im Hinterkopf. „Ich wusste immer: Wenn es nicht klappt, habe ich noch was in der Hinterhand und stehe nicht mit leeren Händen da.“

Foto: Jonas Brehm

Und genau das ist es jetzt, worauf Martin zurückgreift. Während Mandy den eingeschlagenen Weg als selbstständige Tätowiererin weitergehen möchte, sucht er den Weg zurück in eine geregeltere Arbeitsstelle. Ab dem 01.09. fängt er daher wieder als Angestellter in einer Behindertenwerkstatt an. „Ich bin einfach nicht so der Typ für das selbstständig sein. Ich bin zu unstrukturiert.“, resümiert Martin. Dabei bereut er sein Jahr als Fotograph keinesfalls. Das Positive darin, sein Hobby für ein Jahr als Beruf auszuüben, überwiegt für ihn. „Aber finanziell hat es sich nicht gelohnt. Das war auch nie das Ziel.“ Ihm habe einfach die Struktur gefehlt, zudem sei das Interesse für sein ursprüngliches Studienfach nie erloschen. Als Fotograph will Martin aber neben der Arbeit auch weiterhin tätig sein, sich seine Projekte dabei aber bewusster aussuchen.

Empfehlen würden die beiden den Schritt in ein selbstständiges Arbeiten trotzdem. Dabei sei es aber elementar, sich die passende Unterstützung zu suchen, betont Mandy. „Man kann nicht von allem Ahnung haben. Du brauchst um dich herum kompetente Leute, die dir helfen“. So hat sie sich bei der Eröffnung ihres Tattoo-Studios von ihrer Ausbilderin und anderen befreundeten Tätowierern beraten lassen und beispielsweise in Form einer Steuerassistentin und einer Versicherungshilfe Absicherungen geschaffen.

Auch an Studierende, die kurz vor ihrem Abschluss stehen und mit der Idee spielen doch nochmal etwas anderes zu probieren, appellieren die beiden, es einfach zu versuchen. „Wenn sich euch irgendwie die Möglichkeit bietet und ihr gewisse finanzielle Grundlagen habt: Macht es! Irgendwann ist man in seinem Berufsfeld gefangen und kommt nicht mehr raus.“

David Hopper
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