Marc Schäfer ist Ressortleiter der Stadtredaktion bei der Gießener Allgemeinen Zeitung (GAZ) und ehemaliger Student der JLU. In einem Interview spricht er über den medialen Umgang mit der Corona-Pandemie aus der Sicht einer Gießener Lokalzeitung.

Universum: Herr Schäfer, seit wann interessiert sich die GAZ überhaupt für das Thema COVID-19?

Marc Schäfer: Ich habe im Archiv geschaut, wann das Thema Corona zum ersten Mal vorkam: Am 25. Januar diesen Jahres. Das war damals ein Text der Deutschen Presse-Agentur, in dem es um Marburger Forscher ging, die an der Entwicklung eines Impfstoffes beteiligt sind. Das heißt, wir haben das Corona-Thema über die Lokalisierung der Marburger Forscher zum ersten Mal ins Blatt geholt.

„Die Tendenz ist klar.“

Universum: Wie sehr bestimmt Corona jetzt ihr Themenangebot?

Marc Schäfer: Ich habe das Wort Corona bei uns im Archiv gesucht und bin auf 9000 Einträge gestoßen. Es gibt natürlich auch die Biermarke Corona und eine Band, die Corona heißt. Wenn man das abzieht, kommt man ungefähr auf 8800 tatsächliche Corona-Treffer – und das in zweieinhalb Monaten. Das ist eine unglaubliche Zahl. Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz kommt in unserem Archiv 9300 mal vor. Sie hat dafür aber 25 Jahre gebraucht. Daran erkannt man die Dimensionen, die Corona annimmt. Die Tendenz ist klar: Corona hat alles andere weggespült , was sonst in den Tageszeitungen vorkam.

Universum: Wie orientiert sich die GAZ dann zeitlich an neuen Berichten? Was gibt Anlass für einen neuen Artikel?

Marc Schäfer: Die Nachrichtenlage. Wir machen unseren Mantel, also den Politikteil, noch selbst bei uns in der Redaktion. Da werden wir natürlich bedient, zum Beispiel von der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Im Lokalteil ist es ein bisschen anders: Da geht die Aktion eher von uns aus. Wir suchen nach Coronathemen, die wir lokalisieren können: Die Auswirkungen von Corona auf unsere Leser, auf die Leute, die in Gießen leben, auf den Handel, auf die Gastronomie, aber natürlich auch auf die Universität und das Klinikum. Das sind unsere Hauptthemen.

Universum: Wie darf ich mir das vorstellen?

Marc Schäfer: Wir haben sehr schnell eine reine Terminseite auf eine Service-Seite umgestellt, mit Beratungshotlines, denen wir jetzt einen etwas höheren Stellenwert geben und den wichtigsten Ansprechpartnern in der Region – mit Tipps zum richtigen Händewaschen, mit Hotlinenummern am Klinikum, in Rathäusern, Standesamt oder Müllabfuhr. Damit wollten wir den Lesern den Alltag erleichtern, sodass die Leser uns als Service wahrnehmen. Es ging ja darum, in dieser Zeit alles ein bisschen einzuordnen und Orientierung zu geben.

Universum: Auf welche Quellen stützt sich die GAZ in ihren Berichten? Wer sind Ihre Ansprechpartner?

Foto: privat
Marc Schäfer, Ressortleiter der Stadtredaktion bei der Gießener Allgemeinen Zeitung.

Marc Schäfer: Wir arbeiten sehr lokal. Das heißt, Mitarbeiter der Stadtredaktion haben keine Not, sich zum Beispiel an das Robert-Koch-Institut (RKI) zu wenden. Das macht die dpa für uns. Im Lokalteil sind zum Beispiel Ärzte aus dem Klinikum die Gesprächspartner, aber auch andere Experten, beispielsweise Psychologen, die etwas sagen können über die Auswirkungen der Pandemie auf Kinder. Das war ein großes Thema bei uns. So versuchen wir, hauptsächlich über die Universität an Expertenstimmen zu kommen, die bei uns stattfinden, weil es unsere heimischen Experten sind.

Universum: Also quasi ‚von lokal für lokal‘?

Marc Schäfer: Genau. Wir suchen uns hier die lokalen Ansprechpartner nach Expertise aus und kontaktieren die dann direkt.

„Die Leute wollen unterhalten werden.“

Universum: Gab es da schon Rückmeldungen? Leserbriefe, Kommentare, Kritik oder Lob?

Marc Schäfer: Was in letzter Zeit besonders auffällig ist, ist, dass wir sehr viele ermutigende Zuschriften bekommen von unseren Lesern, die uns auch dafür loben, dass wir weiterhin – auch unter den Bedingungen, die jetzt vorherrschen – eine unterhaltsame Tageszeitung machen, auf die sie sich auch verlassen. Normalerweise kommt das nicht so oft vor. Meistens wird Kritik nur im negativen Sinn geäußert, wenn sich jemand über irgendetwas ärgert. Aber in diesen Corona-Zeiten ist es doch schon besonders, dass viele Leute auch mal schreiben: „Mensch, das habt ihr gut gemacht“, oder: „Wir freuen uns auf die Tageszeitung“. Interessanterweise sind vor allen Dingen Rätsel momentan sehr angesagt. Wir haben zum Beispiel – das war auch eine Corona-Reaktion – ein tägliches Kreuzworträtsel auf einer ganzen Seite. Die Leser wollen unterhalten werden. Und auch das gehört für mich zu einer Lokalzeitung dazu: Wir benötigen Inhalte, die über das Lesen von Nachrichten hinausgehen. Wir müssen unterhaltsam sein, auch mal witzig, man muss sich an uns reiben und sich mit uns beschäftigen können.

Universum: Also Sie übernehmen quasi so eine Art pädagogische Betreuung?

Marc Schäfer: Ja, wir machen da ganz witzige Sachen, zum Beispiel ein Mundschutz-Memory-Spiel mit unseren Redakteuren, hinter Masken als Motiv, für die Leser zum Ausschneiden. Und wir haben mit Albrecht Beutelspacher – das ist der Leiter des Mathematikums hier in Gießen – ziemlich schnell vereinbart, dass er uns jeden Tag eine Knobelaufgabe schickt, die wir veröffentlichen, damit die Leser am Frühstückstisch schon mal zehn Minuten über ein Mathe-Rätsel nachdenken können. Das kommt total gut an. Das hätten wir wahrscheinlich unter normalen Bedingungen gar nicht gemacht.

„Wir machen alle alles.“

Universum: Haben Sie eine Art Kompetenzteam für das Thema COVID-19?

Marc Schäfer: Nein, das Thema ist überall integriert. Jeder einzelne Redakteur ist damit beschäftigt, je nachdem wann und wie es in sein Gebiet fällt. Es gibt keinen speziellen Corona-Reporter – wir machen alle alles.

Universum: Wie viele Mitarbeiter sind Sie denn in Ihrer Redaktion?

Marc Schäfer: In der Stadtredaktion sind wir zehn Personen. Wobei: Nicht alle von diesen zehn haben tatsächlich volle Stellen.

Foto: privat
Marc Schäfer im Interview über die Rolle der GAZ in Zeiten von COVID-19.

Universum: Zu dem Thema Corona gibt es nun viele verschiedene Stimmen: Virologen, Politiker, Unternehmer und so weiter. Und es gibt durchaus Zeitungen, in denen die Meinung vorherrscht, dass beispielsweise Stimmen aus der Wirtschaft in gesundheitlichen Fragen nichts verloren haben. In diesem Sinne: Wer kommt denn bei Ihnen zu Wort? Wen wollen sie hauptsächlich zeigen?

Marc Schäfer: Wir streben eine Ausgeglichenheit und eine Unabhängigkeit an. Und wird versuchen, tatsächlich alle möglichen Blickwinkel auf das Thema aus verschiedenen Positionen einzunehmen. Das heißt, wir lassen Mediziner zu Wort kommen, aber genauso auch jemanden beispielsweise von der IHK, der sich aus wirtschaftlicher Sicht zu diesem Thema äußert. Vielleicht nicht immer zeitnah, aber am Ende des Tages bin ich schon relativ sicher, dass wir aus verschiedenen Perspektiven auf dieses eine Thema blicken. Und das ist natürlich auch sehr notwendig, eine Ausgewogenheit ist wichtig.

„Das finde ich wichtig: Dass bei uns auch die Leute vorkommen, über die gerade gesprochen wird.“

Universum: Kommen auch konkret Einwohner aus Gießen zur Sprache? So als Stimmen aus der Bevölkerung. Machen Sie so etwas auch?

Marc Schäfer: Das machen wir auch. Ich bin zwar kein Freund von Umfragen auf dem Seltersweg, denn man muss sich mit dem Thema schon ein bisschen beschäftigt haben und seine Gedanken geordnet haben, um etwas dazu sagen zu können. Das Thema ist einfach zu groß. Zum Thema Jugendliche und Schulöffnung haben wir uns explizit an drei Jugendliche gewendet und ihre Sicht darauf besprochen. Das finde ich wichtig: Dass bei uns auch die Leute vorkommen, über die gerade gesprochen wird. In einer kleinen Serie haben wir zum Beispiel auch „die Helden des Alltags“ gewürdigt. Da sind der Apotheker oder die Bäckereiverkäuferin, die Supermarktkassiererin – einfach um aus deren Perspektive mal zu sagen: Wie ist es denn gerade? Wie ist es, jetzt an die Arbeit zu gehen?

Universum: Legen Sie denn auch Wert auf studentische Stimmen?

Marc Schäfer: Ja, die gibt es auch. Gerade zum Semesterbeginn haben wir uns damit auseinandergesetzt: Mit dem Thema Online/Offline- bzw. Nicht-Präsenz-Unterricht. Da haben wir auch mehrere Beiträge gemacht. Zum ersten Mal haben wir es erklärt und haben dann nach einer Woche auch mal drei oder vier Studenten befragt: Wie läuft es denn gerade bei euch in dieser Situation?

„Ein großer Gemischtwarenhandel.“

Universum: Möchten Sie auf der anderen Seite auch gezielt bestimmte Menschen erreichen? Gibt es eine besondere Interessengruppe, die Sie gerade in der Zeit von Corona ansprechen möchten? Beispielsweise Menschen, die sich nicht online informieren.

Marc Schäfer: Natürlich, das haben wir immer im Blick. Grundsätzlich ist aber für eine Lokalzeitung wichtig, dass der richtige Mix vorhanden ist: Der Mix an Themen, aber auch der Mix an Zielgruppen. Wenn man die Seiten durchblättert, muss etwas dabei sein, an dem man hängenbleibt. Das ist die große Herausforderung einer Lokalzeitung – sie ist ein großer Gemischtwarenhandel, der gar nicht so speziell auf irgendetwas eingehen kann, der aber für jeden Leser etwas bieten muss.

Universum: Wie läuft denn zurzeit das Geschäft im Gemischtwarenhandel? Wirkt sich die Corona-Krise auf Ihre Absatzzahlen aus?

Marc Schäfer: Von 1998 bis heute haben wir ca. 30% an Auflage verloren. Aber in diesem Quartal haben wir zum ersten Mal wieder ein Plus von 0,4% erzielt. Das ist in Deutschland bei Tageszeitungen fast einmalig. Das Plus ist zwar nur ganz klein, und wir wollen es auch nicht überbewerten. Wir wissen auch noch überhaupt nicht, ob das ein Trend ist. Und wir wissen auch nicht, ob es mit Corona zu tun hat – es kann aber sein. Man kann beobachten, dass die Menschen ein bisschen zurückkehren zu den Medien, denen man vertrauen kann.

Universum: Abschließend noch eine Frage: Wo sehen Sie die GAZ hinsichtlich ihrer Rolle für die Gesellschaft?

Marc Schäfer: Aus lokaler Sicht ist ein Leitspruch für mich: Von Gießenern für Gießener. Wir sind alle Gießener bei uns in der Redaktion und wir machen diese Zeitung für diese Stadt und mit dieser Stadt. Die Einwohner, die das Leben hier lebenswert machen, sollen auch bei uns vorkommen. Wir schauen: Wie können wir Menschen vor Ort unterstützen? Da sehen wir uns in Teilen auch ein bisschen als Partner. Natürlich immer aus der Distanz heraus. Wir wollen nicht dazugehören – aber wir sehen schon, dass wir auch Teil dieser Stadt sind und dass auch wir unseren Beitrag leisten müssen, damit diese Stadt so läuft, wie wir uns das alle wünschen.

Adrian Mertes
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