Manch einer wird den Direktor des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) aus Talkshows kennen. Dort ist er als profunder Vertreter wirtschaftsliberaler Positionen ein gern gesehener Gast. Was die meisten nicht wissen: Hüther studierte neben Wirtschaftswissenschaften auch Mittlere und Neuere Geschichte an der JLU. Sein Vortrag vom 14.02.22 unter dem Namen „Perspektiven der Marktwirtschaft: Freiheit in der Wohlstandskrise“ handelte von einer historisch-philosophischen Betrachtung des Freiheitsbegriffs, von den Wurzeln und Entwicklungen der sozialen Marktwirtschaft und davon, warum ein Wechsel der Wirtschaftsordnung keine Lösung ist.

Freiheit ist Verantwortung

Wie bei den Vorträgen zuvor referiert Hüther in der leeren Aula und beantwortet im Nachgang die online eingegangenen Zuschauerfragen. Erwartungsgemäß ist der Vortrag ein Gegenpol zu den zahlreichen, bisweilen paternalistisch anmutenden Beiträgen wie beispielsweise von Leggewie, Wissler oder Neubauer. Aber auch sonst ist der Vortrag eine Premiere. So ist Hüther der zweite Ökonom der Ringvorlesungsreihe, aber der erste, der dem sogenannten „Mainstream“ der Wirtschaftswissenschaften zuzuordnen ist – also der vorherrschenden akademischen Strömung von Ökonomen, welche Volkswirtschaften mittels neoklassischer Gleichgewichtsmodelle zu erklären versuchen. Und doch sprach er zu Beginn nicht über Wirtschaft, sondern über Freiheit. Schließlich sei Marktwirtschaft ohne die Freiheit des Individuums nicht denkbar; sei nicht nur Zumutung an den Menschen, sondern auch Zutrauen. Sie wäre zudem Ausdruck einer politischen Selbstermächtigung des Menschen.

Auch angesichts der jüngsten Diskussionen über die Lösung der Klimakrise, die häufig mit einem Aufruf zu mehr staatlicher Regulierung einhergehen, zitiert Hüther den Philosophen Thomas Hobbes: „Freiheit hört nicht auf kraftvoll von Bedeutung zu sein, nur weil die Handlungsalternativen sich zwischen Regen und Traufe als wenig attraktiv erweisen“. Oder anders formuliert: Auch die Wahl zwischen zwei vermeintlich schlechten Alternativen ist Freiheit; in diesem Fall zwischen dem Klimawandel und den unvorstellbar teuren Klimaschutzmaßnahmen. Gerade in Krisenzeiten müsse man den Individuen vertrauen. Die Entscheidungen müssten dabei nicht immer richtig sein, wichtig sei jedoch, dass die Entscheidungsträger auch die Konsequenzen ihres Handelns trügen. Man könne die Individuen nicht bei Schicksalsentscheidungen entmündigen, oder gar ihr Recht zur Wahl von ihren getroffenen Entscheidungen abhängig machen. In diesem Zusammenhang verweist er auf Martin Luther, der sinngemäß gesagt habe: Freiheit sei das, was uns Jesus Christus zuspreche, man müsse sie nicht durch scheinbar wohlgefälliges Verhalten verdienen.

Soziale Marktwirtschaft ist die Lösung

Was es zur Bewältigung gegenwärtiger Krisen brauche, sei also keine Abkehr von der Wirtschaftsordnung, sondern eine Rückbesinnung auf individuelle Verantwortung. In der Realität gebe es keine absolute Wahrheit: Der Staat wisse eben nicht alles und solle deswegen auch nicht alles entscheiden. Vielmehr brauche es „ein System der Freiheit, das die Innovation des Einzelnen ebenso wie seine Anpassungsfähigkeiten zu mobilisieren versucht.“ Marktwirtschaft sei eine Ethik, eine Handlungslehre und habe die gleichen normativen Wurzeln wie unsere Demokratie. Zwar gebe es auch andere politische Systeme, jedoch sei die Demokratie das erfolgreichste. Demokratie aber – so seine These – sei nicht ohne Marktwirtschaft denkbar.

Martin Hüther mag Wirtschaftswissenschaften sowie Mittlere und Neuere Geschichte studiert haben, auf dem Podium hingegen präsentiert er sich als Anwalt der sozialen Marktwirtschaft. So sei diese Wirtschaftsordnung in Deutschland als Antwort auf historische Krisen hervorgegangen: Nach der Massenarbeitslosigkeit der Weltwirtschaftskrise über die Hyperinflation bis hin zum moralischen Bankrott der NS-Zeit. Weiter habe die soziale Marktwirtschaft weitestgehend ihre Versprechen eingelöst. Mit ihrer Hilfe sei es gelungen, Deutschland in der Nachkriegszeit wieder aufzubauen, glückte die Bewältigung der Ölpreiskrisen in den 70er Jahren. Auch nach der Finanzkrise 2009 hätten selbst die größten Optimisten die darauf folgende „goldene Dekade“ wirtschaftlicher Erholung kaum für möglich gehalten. Anscheinend schreibt Hüther der sozialen Marktwirtschaft vor allem die Lösungen jener Krisen zu, nicht deren Entstehung.

Foto: JLU / Till Schürmann

Innovation durch dezentrale Entscheidungen

Gegen Ende des Vortrags kommt Hüther auch zu seiner eigentlichen Fachrichtung, der Volkswirtschaftslehre. Wir könnten uns nämlich in der Klimakrise ebenso wenig Verzögerungen leisten wie ökonomische Ineffizienzen. Denn unsere Zeit sei geprägt von Unsicherheit, von multiplem Strukturwandel: Digitalisierung, Dekarbonisierung, Demografie und der zunehmenden Beschränkung globalisierten Austauschs von Waren und Dienstleistungen. Dies alles gleichzeitig zu lösen, würde jeden Staat überfordern, es gehe nur mit der Verantwortung des Individuums.

Für die Lösung gegenwärtiger Probleme sei die ordnungspolitische Perspektive – also die Vorstellung, der Staat habe hauptsächlich Wettbewerb und funktionierende Märkte sicherzustellen – um drei Punkte zu ergänzen. Erstens habe der Staat auch sozialen Ausgleich sicherzustellen und die Verlierer des Strukturwandels zu entschädigen, die es bei der dringend nötigen CO2 Bepreisung zwangsläufig geben werde. Zweitens seien Demokratie und Marktwirtschaft zusammen zu denken: Beides verlange dezentrale Entscheidungen und Verantwortung für das eigene Handeln, um vor allem eines zu erzeugen: Innovation. Drittens, so plädiert Hüther, müsse sich die ordnungspolitische Ökonomik für kurzfristige Krisenpolitik öffnen und Geld ausgeben, um Konjunkturabschwüngen entgegenzuwirken. Zudem solle man sich angesichts des massiven Investitionsbedarfs in klimagerechte Infrastruktur vom „finanzpolitischen Klein-Klein“ der Vergangenheit distanzieren, die Schuldenbremse in der derzeitigen Form sei nicht vernünftig.

Freiheit bedeutet nicht, dass man klug sein muss“

Auf die Frage in der anschließenden Diskussion, ob es überhaupt möglich wäre, angesichts zahlreicher Fehlentscheidungen wie beispielsweise des Brexit-Referendums von „selbstbestimmten Bürgern“ zu sprechen, entgegnet Hüther: „Diese Entscheidungen dieser Menschen sind ja nicht illegitim, sie gefallen uns vielleicht nicht. Denn Freiheit heißt nicht, dass man klug sein muss.“ Wichtig sei jedoch, dass die Entscheider die entsprechenden Folgen trügen. Freiheit könne einem nicht abgesprochen werden, nur weil man seltsame Ideen oder vermeintlich wenig Bildung habe. Das betreffe beispielsweise auch die Querdenker: Man müsse deren Thesen nicht teilen, aber sie hätten „verdammt noch Mal das Recht, ihre Meinung vorzutragen“.

Generell beobachte Hüther eine mangelnde Repräsentation nicht mehrheitsfähiger Meinungen in den Medien. Diese sei jedoch erforderlich, damit sich die Menschen entsprechend bilden können. In Bezug auf die Corona Pandemie fehle es nach seiner Auffassung in den Kommentarsektionen gewisser Onlinemedien an einer Art Abwägungslogik, es gäbe nur eine Wahrnehmung der Pandemie. Somit stehe man mit manchen Meinungen heutzutage sehr schnell außerhalb des Diskurses. Was aber die Meinungsrepräsentation für die Demokratie bedeute, sei der Preismechanismus für die Marktwirtschaft: Preise enthielten Informationen über Knappheiten und über die Präferenzen der Marktteilnehmer. Man dürfe sich nur in Ausnahmefälle in die Preisbildung einmischen, da dies die ökonomische Effizienz maßgeblich beeinträchtige.

Demokratisches Marktversagen

Die Ausführungen Hüthers wirken in weiten Teilen schlüssig: Angesichts multiplen Strukturwandels gibt es keinen allwissenden Staat, der ein effizientes Ergebnis sicherstellen kann. Andererseits erscheint es schwierig, wissenschaftlich falsche Mehrheitsentscheidungen mit einer Art Schulterzucken zu akzeptieren, insbesondere, wenn Wohl und Wehe des gesamten Planeten davon abhängen. In diesem Fall müssten die Entscheider die Konsequenzen übrigens nicht tragen, sondern die nachfolgenden Generationen. Deshalb greift Hüthers Betrachtung des Freiheitsbegriffs zu kurz, volkswirtschaftliche Externalitäten – also Auswirkungen von Entscheidungen auf Dritte – kommen darin nicht vor.

Zudem drängt sich der Eindruck auf, dass Hüther nicht nur als Anwalt der sozialen Marktwirtschaft auftritt, sondern vor allem auch als Anwalt der Unternehmen. Seine Argumentation ist auf die Schaffung von unternehmerischen Freiräumen ausgelegt, wenngleich er die Wichtigkeit eines starken Staates – im ordnungspolitischen Sinne – stets betont.

Die Stärke Hüthers Vortrag liegt vor allem in seiner Interdisziplinarität, in der Einnahme verschiedener Blickwinkel. So zeigt er auf, dass die Marktwirtschaft in Deutschland bereits einige Krisen gelöst hat und sogar als Lösung bestehender Probleme konzipiert worden ist. Deren normative Wurzeln seien nach Hüther eng mit dem Freiheits- und Demokratiebegriff verknüpft. Man könnte am Ende des Abends zu dem Schluss kommen, unsere Freiheit sei ein Kartenhaus. Entfernt man eine der tragenden Säulen – Demokratie, soziale Marktwirtschaft –, bricht alles zusammen.

Wirtschaft neu denken

Die Stärke Hüthers Vortrag ist jedoch gleichzeitig die Schwäche der gesamten Ringvorlesungsreihe. Alle Beiträge handelten zwar vom gleichen Thema – der Utopie einer nachhaltigen Wirtschaft –, aber oft ohne sich inhaltlich stark zu überschneiden. Während Luisa Neubauer angesichts der drohenden Klimakrise vor allem die Notwendigkeit zu Handeln betonte, verstieg sich Prof. Dr. Bernhard Neumärker, ebenfalls Referent der Ringvorlesungsreihe, in der Erklärung technischer Details über das sogenannte „Netto-Grundeinkommen“. Dass es auch anders geht, zeigt an diesem Abend Hüther, der gleich mehrmals auf den Eröffnungsvortrag Leggewies Bezug nahm. Die globale Perspektive jedoch, also wie man verschiedene Staaten dazu bringt, gemeinsam gegen die Klimakrise vorzugehen und wie die globalen Abläufe wirtschaftlicher Kooperation aussehen könnten, erfuhr man leider nicht.

Das ist schade, denn Erkenntnisfortschritt entsteht vor allem dann, wenn man miteinander diskutiert, und nicht, indem man aneinander vorbei redet. Eine inhaltliche Schärfung des Ringvorlesungsthemas hätte dieses Problem wohl gelöst. Unter dem Titel „Wirtschaft neu denken – Die Grenzen von Markt und Wachstum. Auf dem Weg zu einer gerechteren Wirtschaftsordnung“ versteht eben jeder etwas anderes. Redet man über alles, redet man über nichts. Um es mit Hüthers Worten auszudrücken: „Wir können uns weder Zeitverlust, noch ökonomische Ineffizienzen leisten.“ Angesichts der drohenden Klimakrise bleibt keine Zeit zu verlieren.

Jonas Vögtlin

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