Wenn ich das Wort Theater höre, denke ich zuerst an Schiller und Shakespeare. Ich stelle mir große Bühnen, ellenlange Monologe und dramatische Liebesgeschichten vor. Das ist ein großer Kontrast zu dem, was ich bei der Theatermaschine erlebt habe: Lieder über Wurst, ein Mensch im Goldanzug und viele skurrile Dialoge. Die Theatermaschine ist ein jährlich stattfindendes Performance-Festival des Instituts für Angewandte Theaterwissenschaften, bei dem Studierende ihre eigenen praktischen Arbeiten veröffentlichen können. Gezeigt werden Performances, Installationen, Filme und Radiosendungen. Die Veranstaltung wird von einer Gruppe Studierender organisiert und hatte in diesem Jahr das Thema „Gold im Getriebe“. Soweit die Theorie – aber wie sieht das in der Praxis aus?
Ein Mensch im Goldanzug
Der Auftakt der Theatermaschine beginnt vielversprechend.Über Twitch bin ich als Zuschauerin live bei der Übertragung eines Zoom-Meetings dabei. Das wundert mich erstmal nicht, ist alles ganz Corona-konform. Nach und nach trudeln immer mehr Teilnehmer*innen in das Meeting ein und der Bildschirm füllt sich. Komischerweise sind sie für ihre eigene Kick-off-Veranstaltung noch nicht fertig gemacht, obwohl sie ja schon längst begonnen hat. Eine Teilnehmerin kämmt sich noch ausgiebig die Haare, jemand Anderes bindet sich schnell eine Fliege um. Das Ganze dauert einige Minuten und ich frage mich langsam, wann es endlich losgeht. Dann kommt mir die Erkenntnis: Das gehört schon zur Kick-Off-Veranstaltung und ist Teil der Show. Denn jetzt sind die Organisator*innen endlich bereit und setzen sich mit ihren Geräten in der Hand in Bewegung. Plötzlich endet die Übertragung des Zoom-Anrufs, auf meinem Bildschirm sehe ich nicht mehr die vielen kleinen Kacheln, sondern einen großen dunklen Raum, in dem einige Organisator*innen auf Sesseln platz nehmen. Im Hintergrund sitzt jemand am Klavier und klimpert leise vor sich hin. Einer fehlt aber noch – Goldie. Der Mensch im goldenen Anzug ist Mittelpunkt der gesamten Theatermaschine. Kurze Einspielern zeigen das Maskottchen, wie es mit Chauffeur zum Ort der Veranstaltung gefahren wird. Anschließend wird Goldie von einer jungen Frau mit Mikro in der Hand interviewt: „Eine Frage noch, bevor Sie gehen. Wie sieht es eigentlich unter dem Anzug mit dem Tragen der Maske aus?“ Aber Goldie bleibt still. Auch wer unter dem Anzug steckt, wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben. Endlich kommt Goldie von der Reporterin los und begibt sich zu den anderen in den Raum. Damit endet die Kick-off Veranstaltung mit einem gemeinsamen Anstoßen auf eine (hoffentlich) erfolgreiche Theatermaschine. Das war also die Eröffnungsveranstaltung. Ich bin gespannt, was noch auf mich zukommt.
Sehr viel Baumwolle und noch mehr Essen
Schnell kann ich feststellen, dass es eine ganze Menge ist, die da auf mich zukommt. Die fünf Tage Festival sind prall gefüllt mit Programmpunkten. Täglich gibt es Literaturtips und abends verschiedene DJ-Sets. In Cotton Flower exist stehen Baumwollblüten im Fokus. Es handelt sich dabei um eine Choreographie, bei der zwei Personen die Blüten behutsam in großen Mustern auf dem schwarzen Boden verteilen. Im Hintergrund hört man Menschen in einer fremden Sprache sprechen. Die Baumwolle in den zwei Kartons scheint nicht enden zu wollen, es werden immer wieder neue Muster auf den Boden gelegt. Mehr passiert nicht – über eine Stunde lang. In der Beschreibung auf der Theatermaschinen-Website lese ich, dass die Baumwolle in der Performance nicht nur ästhetischen Wert hat, sondern auch als Symbol für Ökonomie steht. Der Macher der Performance besuchte für das Video Nordgriechenland um mit Baumwollhersteller*innen über ihre politische Lage zu sprechen; Jetzt wird klar, wer im Hintergrund zu hören ist. In dem Kurzfilm „Foodporn“ geht es um die Ästhetisierung von Essen. Zwei Frauen in schrillen lila Outfits essen alles, was man sich nur vorstellen kann: Berliner, Bananen, Weintrauben und Lollies. Besonders appetitlich ist das aber nicht. Es wird zermatsch, gekleckert, verschmiert und gekrümelt. In der Beschreibung lese ich: „Ein sweeter Foodporn mit bitterem Nachgeschmack. Nicht mit leerem Magen genießen.“ Und sie haben Recht, mir ist der Appetit vergangen.
Ähm…Wurst?
Besonders ein Programmpunkt hat mich lange beschäftigt. Auch hier geht es um Essen. In dieser mehrteiligen Performance dreht sich nämlich alles um ein ganz besonderes Thema: Wurst. Drei Frauen mit aufgeklebten Schnauzern singen und tanzen sich in den Videos anscheinend durchs Weltall und haben dabei eine Menge Spaß. In ihrem ersten Video fliegen sie durchs All und erzählen mir dabei, dass Schinken keine Wust sei. Ich frage mich warum; beantwortet wird meine Frage aber nicht. Auch das zweite Video wirft bei mir eher Fragen auf. Schon als ich den Titel „Egal- Du denkst an Wurst“ lese, muss ich lachen. Man sieht jetzt etwas anderes, die drei Astronautinnen befinden sich in einem Bandraum und tanzen mit ihren Instrumenten. Auf den vorher blauen Weltraumanzügen, sind jetzt lila Galaxien projiziert. Auch der nächste Teil beschäftigt sich – ja richtig: Mit Wurst. Leberwurst. Das Video spielt sich im Inneren eines Raumschiff ab, das von den wieder singenden Astronautinnen liebevoll geputzt wird. Das letzte Video schaue ich mir nicht mehr an, der Titel sagt mir schon: „The Wurst Fight is REAL“. Mehr Wurst-Input brauche ich nicht. Nachdem ich alle Videos angeschaut habe, klappe ich meinen Laptop zu und sitze etwas ratlos am Schreibtisch. Das waren sehr viele, sehr verrückte Eindrücke – ich vermisse den schweigenden Goldie. Erst später, wird sich meine Vermutung bestätigen: Hinter den Videos gab es keinen tieferen Sinn, keine versteckte Botschaft, die ich nicht verstanden habe. Die drei Frauen haben ganz bewusst einfach nur lustigen Müll mit zweifelhaften Aussagen produziert. Und das ist ihnen – wie ich finde – sehr gut gelungen.
Am Ende des Festivals bleibt nur noch einer übrig: Goldie. Während allen Beteiligten des Festivals im Abspann gedankt wird, räumt der goldene Mensch mit einem Besen die Überreste des Festivals auf. Und zwar in dem Raum, in dem die Theatermaschine vor einigen Tagen gestartet ist. Das waren interessante und erkenntnisreiche Tage für mich. Denn ich habe gelernt, dass man unter Angewandter Theaterwissenschaft etwas ganz anderes versteht, als ich immer dachte. Es geht nicht nur um alte eingestaubte Dramen, Theater muss erst recht nicht langweilig sein. In den letzten Tagen habe ich mich viel gewundert, nicht alles verstanden und oft den Kopf geschüttelt – aber vor allem habe ich eines: Viel gelacht und Spaß gehabt.
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