Wie hören wir? Und wie sollten wir hören? Wie wichtig Fehler sind, was das Fremde uns bietet und wie wir versuchen können, unser Ohr aufzuwecken, erfahrt Ihr hier. Begleitet uns und schickt Euer Ohr auf Wanderschaft.

Es ist still in dem kleinen Raum des Musikinstituts. Hinter den Fenstern lockt der warme Sommertag die wenigen Teilnehmer ins Freie. Auch Prof. Nanni, der Dozent unseres Seminars, scheint diese Anziehung zu spüren. „Wir wollen heute über Musik sprechen“, begrüßt er uns. „Aber das können wir hier nicht machen. Kommen Sie bitte mit.“

Prof. Nanni führt uns weg von den kleinen Räumen der Universität. Nach draußen. „Dorthin, wo man denken kann“, wie er sagt. Unser Ziel ist eine kleine Wiese auf dem alten Friedhof Gießens. Umgeben vom warmen Schein der tiefstehenden Sonne setzen wir uns ins Gras. Die liegenden Fahrräder tauchen ein in das grüne Meer der Wiese. „Wir wollen miteinander ins Gespräch kommen“, sagt Prof. Nanni in die Runde. Ein entspanntes Lächeln zeichnet sein Gesicht. Was uns dabei helfen soll: „Der Irrtum als Notwendigkeit“, ein Text des Komponisten Luigi Nono.

Denn der Irrtum ist es, der die Regeln bricht.“

Prof. Nanni möchte uns einladen, unser Ohr aufzuwecken. Unter den Fragen: „Wie hören wir?“ und „Wie sollten wir hören?“ beginnen wir unser Gespräch mit etwas zutiefst Menschlichem: Mit Fehlern. Wenn wir hören, begegnen uns ständig Fehler. Mal unterlaufen uns Irrtümer beim Hören, mal macht der Musiker Fehler beim Spielen seines Instruments. Doch Irrtümer sind nicht bloße Inkorrektheit, in der Musik sind sie gleichwohl Fehler wie Regelbrüche. Auf der einen Seite führen Sie zu ungewollten Dissonanzen, auf der anderen eröffnen sie unbekannte Perspektiven, sind ein Tor zu Neuem. Laut Komponist Nono sei daher der Irrtum an sich eine Notwendigkeit in der Musik wie auch im Leben selbst. Wir nicken erstaunt.

Foto: Adrian Mertes
Unsere Wiese auf dem alten Gießener Friedhof.

Mit Irrtümern allein ist das Aufwecken des Ohrs aber noch nicht getan. Um zu verstehen, wie wir hören sollen, dürfen wir nicht auf uns selbst beschränkt bleiben. Eine Erweiterung des eigenen Horizonts gelinge nur durch einen Ausbruch aus dem Gefängnis des Vertrauten, sagt Nono. Wir müssen uns also mit einem weiteren Bereich beschäftigen, der uns nicht vertraut ist: Mit dem Fremden. Wie aber hören wir Fremdes? Um sich dieser Frage zu nähern, beginnt Nono seine Ausführung damit, wie wir gerade nicht hören sollten. Denn eine Gefahr, von der er schreibt, sei das Wiedererkennen:

Wenn man hört, versucht man oft sich selbst in den Andern wiederzufinden. Statt Stille zu hören, statt die Andern zu hören, hofft man noch einmal sich selbst zu hören. Das ist eine Mauer gegen die Ideen, gegen das, was man heute noch nicht erklären kann.“

So weit, so gut. Was aber ist die Alternative? Wie sollte man besser hören? Wir blicken uns schweigend an. „Schauen Sie, was Nono fordert“, sagt Prof. Nanni: „Im vorletzten Satz.“ Unsere Blicke senken sich auf den gedruckten Text. „Die größtmögliche entäußerte Innerlichkeit“.

Was bitte soll das sein? Die Frage ist berechtigt. Nono beschreibt es als einen Zustand des Betrachtenden, in dem dieser sich vollständig von eigenen Vorstellungen und Vertrautem löse. Da die Verbindung zum Bekannten das sei, was den Menschen am Erkennen des Fremden hindere, sei gerade nicht das Wiedererkennen das Ziel des Hörens. Erstrebenswert sei hingegen ein Zustand, in dem der Mensch völlig unvoreingenommen erfahren und hören könne.

Foto: Adrian Mertes
Die Teilnehmer des kleinen Seminars.

Völlig losgelöst sein? Kann man das? Wir beginnen zu zweifeln. Schnell wird uns klar: Das Ziel der größtmöglichen entäußerten Innerlichkeit ist in seiner radikalen Form nicht erreichbar. Allerdings ist das auch nicht notwendig. Denn wie andere Utopien dieser Welt, deren Ziele völliger Gewaltlosigkeit, Glückseligkeit, gegenseitiger Fürsorge und vielem weiteren in ihrer extremen Form nicht erreichbar sind, markieren sie dennoch Ziele, denen Menschen während ihres Lebens zustreben können. Somit ist auch das möglichst unvoreingenommene Hören nur ein Schritt in Richtung eines Ideals. Um diese Theorie aber in die Praxis umzusetzen, bedarf es Übung. Wie löst man sein Hören vom Vertrauten? Wir blicken uns erneut nachdenklich an. Einmal wieder zeigt sich ein Lächeln im Gesicht unseres Dozenten.

Wanderer, es gibt keinen Weg, nur das Gehen.“

Prof. Nanni erzählt uns von einem seiner Erlebnisse mit Nono selbst, damals als Student in Freiburg. Bei einem Experiment mit Frequenzreglern war ein Team um Nono gerade dabei, eine Art von Harmonie aller Frequenzen, Lautstärken etc. zu finden und die Regler dementsprechend einzustellen. Nach ewigem Suchen fand sich tatsächlich ein Ergebnis. Es schien, als habe das Experiment sein Ziel erreicht und die Aufgabe des Hörens sei beendet. Nono aber stand auf und veränderte die Regler und Parameter ein weiteres Mal. Das Experiment, das Erlebnis der Suche, ging weiter.

Warum tat er das? Um dies zu verstehen, müssen wir uns fragen: Worin bestand der Wert seines Projekts? Schnell wird klar: Nono ging es nicht um das Finden einer Harmonie. Gleichwohl bestand das Vorhaben nicht aus einer klaren Linie vom Versuch zum Ergebnis. Vielmehr stand das Suchen, das kritische Hören, das Entdecken des Fremden im Fokus des Experiments. So war es nicht das Ergebnis des Projekts, das Nono durch seine Tat zerstörte. Was er zerstörte, war das Gefühl seiner Teilnehmer, an einem Ende zu sein. So natürlich die Einstellung der anderen Teilnehmer war, sich über ein harmonisches Wiedererkennen in ihrem Ergebnis zu freuen, so zutiefst menschlich war Nonos Reaktion. Was er tat, war das Vertraute, die kurz für wahr gehaltene, flüchtige Harmonie erneut kritisch zu betrachten und sich mit dem Ziel der Erkenntnis abermals dem Fremden zuzuwenden. Durch diese kurzweilige, stets dem Neuen, dem Fremden zugewandte Art sollten die Teilnehmer des Experiments das kritische, aufgeweckte Hören neu erlernen. Sie sollten es durchlaufen wie ein Wanderer: Statt stets die ganze Reise vor Augen zu haben, sollten sie beim Entdecken Ziel und Weg bewusst ausblenden, sich nur auf das Gehen, bloß auf das Hören konzentrieren. Nur so erlangten sie einen freien Blick auf ihre Umwelt, auf ihren aktuellen Ort, auf ihre fremde Umgebung.

Das Aufwecken des Ohrs

Nun, wie also schicken wir unser Ohr auf Wanderschaft? Wie müssen wir hören, um unser Ohr besonders aufmerksam zu machen? Wir denken nach. Stille. Natürlich, Stille! Denn wir hören gerade dann am genauesten, wenn wir gar nichts hören. Jeder kennt das aufmerksame Horchen auf ein plötzliches, unbekanntes Geräusch bei vermeintlich stiller Nacht. Aber unsere Stille darf nicht leer im Raum stehen und bloß als Fehlen von Geräuschen verstanden werden. Sie muss als Ausdruck wirken. Um unser Ohr aufzuwecken, muss es Stille in einer konsequenten und musikalisch expressiven Form sein. Sofort denken wir an John Cages‘ Werk „4:33“. (Für alle, die es noch nicht kennen: Hier findet ihr ein Video.) Auf Prof. Nannis Vorschlag wird das Stück aufgeführt, hier in unserem locus amoenus – unserem heiteren Ort in der Natur.

Wir sitzen im Kreis und hören. Was wir zuerst hören: Nichts. Doch dabei bleibt es nicht. Nach wenigen Sekunden öffnet sich unser Ohr für Melodien von Vögeln, für raschelnde Bäume und das dumpfe Brummen entfernter Autos. Hinzu kommen weitere, leise aber sehr nahe Laute wie kleine Bewegungen anderer Teilnehmer im Gras. Schließlich aber nehmen wir kaum merkliche Geräusche wahr, die sich nicht sofort zuordnen lassen. Auch mit den Augen ist ihr Ursprung nicht auszumachen. Aber sie sind da. Wir entspannen uns, schließen die Augen und hören weiter. Verschwommenes Geknister, konturloses Rascheln, ein unscharfes Summen. Ist es eine Biene? Es klingt nicht danach. Muss es denn klingen wie etwas Bekanntes? Nein, es klingt anders. Wir beginnen zu verstehen, was Prof. Nanni uns zeigen will. Weitere Geräusche in nah und fern. Wir hören weiter, suchen weiter. Immer wieder aufs Neue: Weg vom Bekannten, hin zum Fremden. Minute um Minute…

Das Hören neu lernen (Foto: Adrian Mertes)

Die Stimme von Prof. Nanni holt uns zurück auf unsere Wiese. Er lächelt uns zu: „Vielen Dank, dass Sie heute hier waren. Ich hoffe, Sie fanden unser Gespräch anregend.“ Das Stück ist vorbei. Unser Gespräch endet. Wir verlassen den Friedhof.

Dieser Beitrag entstand im Rahmen eines Seminars der Justus-Liebig-Universität Gießen am Institut für Musikwissenschaft und -pädagogik.

Adrian Mertes
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