Eine Woche ohne Smartphone: Klingt kompliziert? Wie wär’s mit einem Monat? Oder drei?

Um WhatsApp und Co. nutzen zu können, muss man ihre AGB akzeptieren – oder, man tut es nicht. Ich halte inne, mein Blick hebt sich zum Horizont: Es ist Zeit für ein Experiment.

„Hey Adrian, ist dein WhatsApp kaputt?“ Eine SMS trudelt ein, mein altes Sony Ericsson leuchtet auf. Ja, es ist das Einrad unter den heutigen Mobiltelefonen; doch „kaputt“ ist mein WhatsApp deshalb nicht. „Kaputt“ können nur Dinge sein, die funktionieren sollen. Mein Fall aber ist anders: Ich habe den Smartphones bewusst den Rücken gekehrt, ich habe der digitalen Verlockung entsagt – Adrian hat die Gruppe verlassen. Für meine Neugier, für diesen Artikel, für die digitale Freiheit. Liebevoll betaste ich die antike Schiebekamera meines Handys.

Gruppenchats

„Wir machen dann einfach eine WhatsApp-Gruppe für unser Bandprojekt“, sagt Kilian in die Runde unserer Tonstudio-Gruppe. Ich räuspere mich. Warmherzig-lächelnde bis spöttisch-erschrockene Blicke treffen mein Mobiltelefon. Und die Verwirrung ist – zumindest statistisch – berechtigt: Circa drei Milliarden Menschen auf der Welt nutzen Smartphones – davon etwa die Hälfte auch WhatsApp. Somit ist WhatsApp die Bibel im Smartphone-Hotelzimmer. Als vermeintlicher digitaler Antichrist erkläre ich der Gruppe mein Experiment. Besonders beim Thema Datenschutz wandeln sich ihre skeptischen Blicke: Was mir begegnet, ist Verständnis – wenn auch ein zögerliches. Dennoch ist es ein besonderer Moment, ein Moment des Sieges: Zumindest in diesem kleinen Kreis scheint der Schleier der digitalen Ignoranz noch nicht jedermanns Augen zu trüben. Ich koste den Moment der Freiheit. Parallel gründet ein Kommilitone unsere Gruppe auf Facebook. „Wir schreiben dann“, sagt er. Momente sind eben vergänglich.

Foto: Adrian Mertes
Mein Handy für 12 Wochen: Das Sony Ericsson k750i.

Sage und schreibe 19 Milliarden US-Dollar strichen die WhatsApp-Gründer Jan Koum und Brian Acton ein, als ihr Messenger-Dienst im Jahr 2015 in Facebook aufging. Und trotz aller Sorgen um Privatsphäre und Datenschutz ist seine Beliebtheit bis heute ungebrochen – und dass ohne je einen einzigen Cent in Werbung oder Marketing investiert zu haben. Auch ich zählte einst zu den rund anderthalb Milliarden WhatsApp-Nutzern auf dieser Welt. Erinnerungen an eine weit entfernte Zeit – vor drei Tagen. Ich liege noch im Bett und erinnere mich an eine Zeit des allmorgendlichen Smartphone-Checks nach neuen Nachrichten und aktuellen Meldungen: Weltweit rund 60 Milliarden gesendete Nachrichten und über 700 Millionen Fotos – jeden Tag! Und das nur bei WhatsApp! Ich richte mich auf und blicke prüfend auf mein Handy: „Ihr Akku ist voll geladen.“

Das Mittelalter

Wir sitzen in der Mensa und reden. Mit einer beeindruckenden Rechts-Links-Koordination tippt Philipp mit einer Hand auf seinem Smartphone, während die Gabel in der anderen eine fliehende Bratwurst auf seinem Teller jagt. Ich nicke respektvoll und nehme an seinem Monolog teil. Unter dem Thema ‚Das Mittelalter als Erfindung der Moderne‘ dringen vereinzelte Gesprächsfetzen zu mir herüber: „…Das Mittelalter! Die Mitte von was?! …“ Ich piekse in meinem Salat herum und beobachte nachdenklich mein Handy. Rund 23 Mal am Tag prüft der durchschnittliche WhatsApp-Nutzer sein Smartphone auf neue Nachrichten, hinzu kommen pro Monat etwa 40 gesendete Bilder. Während ich zum dritten Mal die Menükarte lese, überlege ich, wie viel wertvolle Zeit das Smartphone in Anspruch nimmt. Am Nebentisch fotografiert eine Kommilitonin behutsam ihr Zartweizen-Gericht. Scheinbar hat Philipp meine Abgelenktheit bemerkt. Er hält inne und blickt von seinem Smartphone auf. Ich schaue kompetent zurück. Unsere Augen verengen sich zu prüfenden Schlitzen – Stille. Bevor Philipp sein Gespräch wieder aufnehmen kann, erzähle ich ihm von meinem Experiment. Eine skeptische Miene bedeckt sein Gesicht. Ich mache ein Foto. Das laute Geräusch des Auslösers scheint die umliegenden Mensabesucher irritiert zu haben; meine Kamera erntet skeptische Blicke von der Zartweizen-Studentin. Ich senke meinen Arm mit dem Blitzlicht-Pulver. Philipp nutzt die Chance und fährt fort: „…Außerdem ist das Mittelalter sowieso viel zu eurozentristisch! …“

Banking & Briefverkehr

Da mein Einkaufsbummel auf Ebay an der Mauer der TAN-App ein jähes Ende fand, verschenke ich dieses Jahr Weihnachtsgrüße per SMS. Bereits seit einer halben Stunde liege ich verkehrt herum auf meinem Bett und tippe auf die winzigen Handy-Tasten. Gefühlt habe ich die 195 Minuten, die der gemeine WhatsApp-Nutzer pro Woche im Messenger verbringt, bereits in diese Nachricht an meinen Freund Simon investiert. Schließlich tippe ich zufrieden auf „senden“. Eine kleine Animation begleitet den davonfliegenden Weihnachtsbrief auf dem kleinen Display. Am darauffolgenden Tag bringt ein hereinfliegender Brief eine Antwort von Simons Mitbewohner: Dieser befinde sich aktuell im Ausland und sei daher nur über WhatsApp erreichbar; aber er wünsche mir trotzdem ein frohes Fest. Ich blinzle. Meine letzten drei Briefe flogen scheinbar nach Kolumbien. Ich fürchte, dass die Frei-SMS von AldiTalk hier an ihre Grenzen stoßen. Ich lege mein Handy zur Seite und werfe mich mit einem leisen Seufzen auf mein Kopfkissen.

GoogleMail

Zum dritten Mal klopft meine Faust energisch an die Tür meiner Dozentin – keine Antwort. Ich bin in Eile und es ist Sprechstunde, glaube ich. Ein paar Klicks auf Google, ein kurzer Blick in meine Mail-App und ich wäre schlauer – aber Handy sagt nein. Wegen der offenstehenden Tür des Nebenzimmers frage ich im dortigen Sekretariat nach: Eine Regung der Sekretärin ist nicht feststellbar. Ich stehe unruhig in der Tür. Die Zeit scheint hier nicht existent zu sein. Plötzlich erreicht mich eine leise, zerstreute Antwort: „Die müsste eigentlich da sein…“ Ihr leerer Blick haftet regungslos auf meinem Gesicht. Sie scheint noch etwas sagen zu wollen – voll gespannter Erwartung schiebt sich meinen Kopf um wenige Zentimeter nach vorn. Jahre verstreichen. Schließlich nimmt ihr Gesicht ein Lächeln an, sie spricht mit überzeugter Miene: „Schreiben Sie ihr doch einfach ’ne Mail mit ihrem Handy. Vielleicht ist sie noch hier.“ Nach kurzem Erstarren verlasse ich das Institut – eine Deeskalations-Mohnschnecke ist überfällig.

Digital Detox

Zurück in unserer WG lehne ich an der Zimmertür meines Mitbewohners Matthias. Er sitzt wie gewohnt am Schreibtisch, vor seinem Computer mit zweierlei Bildschirmen. Ich berichte ihm von meinem nun beendeten Experiment: Von meinem großen Gegenspieler WhatsApp, von den elektronischen Hürden bei Mail und Banking, aber auch von meinen Momenten der digitalen Freiheit. „Ahh, Digital Detox!“, sagt Matthias mit wohlwollendem Nicken: „Gute Sache, sollte man mal öfter machen!“ – sein Blick haftet unverändert an den Bildschirmen. Ich blicke ihn prüfend an; langsam verlasse ich das Zimmer. Mir kommt der Gedanke, dass meine digitale Radikalabstinenz vielleicht noch zu wohlwollend war.

Adrian Mertes
Letzte Artikel von Adrian Mertes (Alle anzeigen)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert